Dem Schnittstellen-Wildwuchs ein Ende

Es ist gut 70 Jahre her, seit die Intensivmedizin durch die Polio-Epidemie ihren Anfang nahm. Damals gab es nur ein einziges Medizingerät je Patient – die Eiserne Lunge. Durch kontinuierliche klinische Forschung und zahlreiche technische Innovationen haben sich seither die Möglichkeiten zur Unterstützung und Überwachung von Vitalfunktionen und damit auch die Überlebens- und Heilungschancen für Patienten signifikant verbessert. Es gibt aber auch eine Kehrseite dieses Erfolges, und das ist die zunehmende Komplexität, die man auf Intensivstationen oder im OP rund um den Patienten erfährt. Diese Komplexität ist unter anderem der Vielzahl unterschiedlicher Medizingeräte verschiedener Hersteller geschuldet. Alle diese Geräte liefern Informationen und Daten, die für klinischen Entscheidungen oder die Kontrolle von Therapiemaßnahmen unverzichtbar sind. Die Herausforderung ist, dass das klinische Personal diese Daten von den Geräten ablesen, in den klinischen Kontext setzen und interpretieren muss. Das ist Kopfarbeit auf Basis von Erfahrung und von klinischen Leitlinien.

Uneinheitlichkeit bei Datenschnittstellen

Digitale Tools könnten klinischen Entscheidungen am Arbeitsplatz unterstützen, aber dafür müssen Daten in einheitlichen Formaten und medizinischer Qualität zusammengeführt werden. Genau hier liegt das Problem bei den heutigen digitalen Infrastrukturen: Jeder Hersteller nutzt proprietäre Schnittstellen und Datenprotokolle, die ursprünglich nur für die Datenspeicherung entwickelt wurden. Die Weiterleitung und Zusammenführung der Daten erfolgt meist über Konverter in Patientenmonitoren, da nur diese über proprietäre Netzwerke eine Verbindung zum Krankenhausinformationssystem und der Datenspeicherung bereitstellen. Ein direkter, bidirektionaler Austausch von Daten zwischen Medizingeräten in medizinischer Qualität ist mit der heutigen Technologie kaum möglich. Die Uneinheitlichkeit und unzureichende Qualität der Daten schränken die Anwendungsmöglichkeiten für klinische Zwecke erheblich ein. Herstellerübergreifende Fernüberwachung und -steuerung von Medizingeräten, der Austausch von Daten für Regelkreise bei der Therapiesteuerung oder die Nutzung hochauflösender Daten für klinische Tools sind mit heutigen Schnittstellen nur bedingt umsetzbar.

Standardisierte Vernetzung

Das Problem ist lange bekannt, und es gab verschiedene Initiativen in Europa und den USA, um hier eine Einigung bei den Schnittstellen zu erreichen. Seit 4 Jahren gibt es nun endlich einen internationalen Standard für die sichere Konnektivität von Medizingeräten, den ISO/IEEE 11073 SDC (kurz SDC). Dieser Standard wurde unter Beteiligung von Medizingeräteherstellern, Universitätskliniken und Forschungsinstituten im Konsortium OR.Net in Deutschland entwickelt und im Jahr 2020 veröffentlicht. ISO/IEEE 11073 SDC ermöglichteine direkte, bidirektionale Interoperabilität zwischen Medizingeräten am Bettenplatz und gleichzeitig eine bidirektionale Kommunikation mit dem Krankenhausinformationssystem.

Erste Anwendungen

Die Firma Dräger, einer der Pioniere in dieser Arbeitsgruppe, hat bereits Medizingeräte mit diesem neuen Standard ausgestattet und erste Anwendungsfälle umgesetzt. Gemeinsam mit anderen europäischen Herstellern wurde ein Demonstrator vorgestellt, der die akustische Alarmierung am Intensivbett unterdrückt. Das ist nur möglich, weil die Medizingeräte über SDC die Rückmeldung erhalten, dass die Alarme sicher an die Zentrale und die mobilen Endgeräte der Pflegekräfte weitergeleitet werden. Auch der Fernzugriff auf Medizingeräte im Patientenzimmer von einer Benutzeroberfläche außerhalb des Zimmers ist ein bereits umgesetzter Anwendungsfall. Die Einführung eines netzwerkbasierten Standards für die Kommunikation von Medizingeräten läutet einen Paradigmenwechsel in der Medizintechnikindustrie ein. Auf Basis von SDC können klinische Lösungen entwickelt werden, die bislang aufgrund regulatorischer Anforderungen oder unzureichender Konnektivität unmöglich waren. Dies erfordert aber auch eine deutlich engere und offenere Zusammenarbeit zwischen Herstellern von Medizingeräten, um im „Internet der Medizinischen Dinge“,gemeinsame Innovationen für digitale Assistenzsysteme und mehr Automatisierung in der Akutmedizin zu schaffen.

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Toni Schrofner
Chief Officer Medical Division / Vorstand Medizintechnik Member of the Executive Board Dräger Medical Deutschland GmbH