Digitalisierung und Patientensicherheit – Traum und Wirklichkeit

Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren! Die Chancen der Digitalisierung über die vielen Jahre hinweg nicht zu nutzen, ist für Patientinnen und Patienten lebensgefährlich und somit grundsätzlich unethisch. Sind wir nicht zutiefst verpflichtet, alle Chancen zu nutzen, um Schaden von Patientinnen und Patienten abzuwenden? Sie haben es sicherlich gelesen, im Februar gab es eine Pressemeldung zum Tod einer Frau infolge einer Überdosis Methothrexat. Das ist kein Einzelfall in Deutschland. Diese Ereignisse sind nicht neu, sie kommen so häufig in Deutschland vor, dass das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) dazu schon vor vielen Jahren eine Handlungsempfehlung geschrieben hat. Die falsche Dosierung von Methothrexat gehört zu der Gruppe der Never Events. Dinge, die sich nie ereignen sollten, sie sind grundsätzlich eindeutig identifizier- und vermeidbar. In der Zeitung wurde ausgeführt, dass der Hausarzt auf dem Medikationsplan eine wöchentliche Verordnung richtig angeordnet hatte und dies in der Klinik als tägliche Dosis falsch übertragen wurde. Der Übertragungsfehler ist eine der häufigsten Fehlerarten bei dem Prozess der Verordnung von Arzneimitteln. So können in einem anderen Fall aus 20 mg Torem auch mal schnell 200mg Torem werden und keiner merkt es, bis es zu einem unerwünschten Ereignis oder Schaden beim Patienten kommt und der Fehler aufgrund der Ursachensuche des Schadenereignisses entdeckt wird! Hätte hier die Digitalisierung helfen können? Ich bin fest davon überzeugt: JA! Ein elektronischer Medikationsplan (eMP) hätte geholfen. Ein eMP, der integrierbar ist und den Anspruch der Interoperabilität erfüllt. Zudem könnte in jedem elektronischen Verordnungssystem bei der Verordnung des Medikaments Methotrexat mit ebenfalls schon hinterlegter Indikation festgelegt sein, dass nur eine wöchentliche Verordnung in Frage kommt. Möchte man von dem Standard aus guten medizinischen Gründen abweichen, kann ein Warnhinweis des Systems nochmals auf das Problem der täglichen und wöchentlichen Anwendung hinweisen. Genau so trifft der Arzt eine gut informierte Entscheidung. Dies ist aber weiterhin ein Traum in Deutschland, das ist flächendeckend noch lang nicht umgesetzt.  Ja - so verhindert man Fehler und rettet Menschenleben mit Hilfe von digitalen Tools und digitalen Anwendungen.

Wir bleiben bei der Arzneimitteltherapiesicherheit, ein zweiter Fall. Eine Patientin bekommt ein Medikament, reagiert allergisch und muss reanimiert werden. Das ist ein unerwünschtes Ereignis und möglicherweise vermeidbar. Vermeidbar dann, wenn diese Arzneimittelallergie im Vorfeld bekannt ist. Nicht vermeidbar, wenn diese allergische Reaktion das erste Mal auftritt. Im vorliegenden Fall war die Allergie tatsächlich im Vorfeld bekannt und das Ereignis somit vermeidbar, man hätte Schaden vom Patienten abwenden können. Es gab eine Pflegeanamnese, in der die Allergie erfragt und dokumentiert war. Bedauerlicherweise haben diese Angaben zur Allergie die Übertragung ins Krankenhausinformationssystem (KIS), in den Bereich, der von den Ärzten gelesen wird, nicht gefunden. Die Übertragung hat es nicht in den standardisierten Bereich geschafft.

Hätte hier ein elektronischer Allergiepass als Teil einer elektronischen Patientenakte geholfen? Eine ePA, die sich automatisch mit dem entsprechend standardisierten Bereich des KIS-Systems verbindet (Interoperabilität) und sogleich diese Information dann auch für das elektronische Arzneimittelverordnungssystem zur Verfügung stellt? Hätte die Digitalisierung helfen können? Auch dies ist erstmal flächendeckend in Deutschland ein Traum und ja – so verhindert man Fehler und rettet Menschenleben.

Das Problem der Arzneimitteltherapiesicherheit ist groß. Im ambulanten Bereich besitzt nur etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten, die drei oder mehr Medikamente einnehmen, einen Medikationsplan. 40% der Patienten, die drei oder mehr Medikamente einnehmen, haben schon einmal Probleme mit ihrer Medikation festgestellt, z.B. dass sie Tabletten vergessen, zum falschen Zeitpunkt eingenommen oder verwechselt haben. Hier könnten bereits vorhandene Apps, die Patienten regelmäßig zu erinnern, helfen. Eine norwegische Studie stellte fest, dass 18,2% der Todesfälle im Krankenhaus auf ein oder mehrere Medikamente zurückgeführt werden können. 56,9% der unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Krankenhausaufnahme werden vom Notarzt nicht als solche erkannt. Das ist mehr als verständlich, woher soll der Notarzt auch wissen, welche Medikamente der Patient nimmt. Auch hier könnte ein eMP, die Patientensicherheit erhöhen.

Es macht mich wütend, dass wir ganz selbstverständlich selbstfahrende Autos feiern, Amazon mehr über mich weiß als irgendjemand anders und wir aus Macht- und Eigeninteressen im Gesundheitswesen keinen Schritt vorankommen und Menschenleben aufs Spiel setzen. 

„If it is not safe, it‘s not care!“ - Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generalsdirektor der WHO

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Dr. Ruth Hecker
Vorsitzende Aktionsbündnis Patientensicherheit