Hybrid Care als Zukunftsmodell – Von der „Hybrid-Praxis“ zu „Hospital-at-Home“

Die ambulante sowie stationäre Versorgung in Deutschland steht vor dramatischen Umbrüchen. In Sachsen waren 2024 schon 373 Hausarztsitze unbesetzt; Ende 2025 werden es rund 450 sein. In Brandenburg sieht es nicht besser aus: Auch hier fehlt in vielen Landkreisen eine stabile hausärztliche Versorgung, die Wege zu den nächsten Arztpraxen sind oft weit, und für Routineuntersuchungen fahren Patienten teilweise über eine Stunde. Gleichzeitig altert die Bevölkerung in beiden Ländern rapide – Sachsen wird 2030 das Bundesland mit der ältesten Bevölkerung sein, Brandenburg folgt dicht dahinter. Diese demografische Entwicklung verschärft die Situation für chronisch Kranke, multimorbide Menschen und Pflegebedürftige massiv.

Um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, hat die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen das Konzept der Versorgerpraxen entwickelt. Diese Praxen sind Eigeneinrichtungen der KV, in denen auch nichtärztliches Personal delegierbare Leistungen erbringt und Videosprechstunden anbietet  Das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) von 2025 sieht vor, hausärztliche Versorgerpraxen und deren Angebote gezielt zu fördern, unter anderem durch neue Abrechnungsvorgaben und Versorgungspauschalen. Doch während dieser Initiativen wichtige Impulse setzen, braucht es einen noch radikaleren Wandel: Hybrid Care.

Von Versorger- zu Hybridpraxen

Hybrid Care kombiniert das Beste aus zwei Welten – pflegerische sowie ärztliche Präsenz vor Ort und digitale Fernversorgung. In modernen Hybridpraxen werden Patienten zunächst von einem Team aus Medizinischen Fachangestellten (MFA) und Physician Assistants (PA) oder Health Community Nurses (HCN) in Empfang genommen. Die Terminbuchung erfolgt per App oder Telefon, Symptome und Vorerkrankungen werden elektronisch erfasst und ein Algorithmus schätzt bereits bei der Buchung die Komplexität ein. Anhand dieser Einschätzung entscheidet das System, ob ein PA die Untersuchung durchführen kann oder ein Haus- oder Facharzt persönlich oder per Video hinzugeschaltet werden muss. Patienten werden bei Bedarf zusätzlich via „Remote Patient Monitoring“ (RPM) mit modernen Wearables überwacht, drohende Verschlechterungen des Krankheitsbildes können somit bereits frühzeitiger erkannt und somit Folgekomplikationen verhindert werden. 

Dieses Modell spart Zeit und Wege: Patienten können viele Anliegen online erledigen, ihr Gesundheitszustand wird mit einem Wearable in der Häuslichkeit überwacht und sie müssen nur für komplexere Untersuchungen in die Praxis kommen. 

Ärzte können dank digitaler Anbindung mehrere Praxen oder Regionen versorgen, ohne ständig vor Ort zu sein. Damit gewinnen sie an Flexibilität und können sich auf anspruchsvolle Fälle konzentrieren. Gleichzeitig entstehen neue Berufsrollen: Health Community Nurses (HCN) und Advanced Practice Nurses (APN) übernehmen delegierbare Tätigkeiten, führen Hausbesuche durch und unterstützen bei Prävention und Nachsorge. Diese Akademisierung der Pflege entlastet Ärzte nachhaltig und erhöht die Versorgungsdichte.

Digitale Infrastruktur und Living Lab

Damit Hybrid Care funktioniert, braucht es eine robuste digitale Infrastruktur. Wearables und Sensoren ermöglichen Telemonitoring und RPM, sodass Gesundheitsdaten in Echtzeit an die Praxis gesendet werden. KI-gestützte Triage hilft dabei, Dringlichkeiten richtig einzuschätzen und Ressourcen optimal zu nutzen. Ein „Living Lab“ als Erprobungsplattform kann digitale Innovationen – von Telemedizin über Künstliche Intelligenz bis hin zu Interoperabilitätsstandards – unter realen Bedingungen testen und weiterentwickeln. So entstehen praxisnahe Lösungen für Terminsteuerung, intersektorale Kommunikation und Versorgungskoordination. Wichtig ist, dass diese Technologien interoperabel sind und sich nahtlos in bestehende Systeme wie die elektronische Patientenakte integrieren.

Krankenhaus ohne Mauern: Hospital at Home

Ein weiterer Baustein der Hybrid-Care-Vision ist das Konzept Hospital at Home (HaH). Dabei werden Patientinnen und Patienten, die sonst stationär behandelt würden, in ihrem häuslichen Umfeld auf Krankenhausniveau versorgt. Internationale Erfahrungen zeigen die Vorteile: Ein Bericht der US-Medicare-Behörde CMS aus dem Jahr 2024 belegt, dass HaH-Patienten geringere Mortalitäts- und Wiedereinweisungsraten sowie niedrigere Kosten aufweisen. Die Mayo Clinic in Arizona hat durch ihr HaH-Programm fast 3.900 Betttage eingespart; lediglich 11 % der Patienten mussten wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden, verglichen mit 17 % bei stationärer Behandlung ohne einen „Hospital-at-Home“ Ansatz. Randomisierte Studien kommen zu dem Schluss, dass die Sicherheit der Versorgung zuhause der stationären Behandlung entspricht, während das Wohlbefinden der Patienten sogar höher ist, wenn man im Kreise von Angehörigen zu Hause gesund werden kann.

In Deutschland bauen wir derzeit erste Pilotprojekte auf– etwa am Universitätsklinikum in Dresden sowie Cottbus mit Einbeziehung der jeweils umliegenden Regionen.  Dennoch lässt der große Durchbruch von Hospital-at-Home (HaH)-Modellen bislang auf sich warten. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es fehlen passende Vergütungsmodelle, die Abrechnungsgrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sind zu strikt, und die digitale Infrastruktur ist vielerorts noch unzureichend. Dabei könnten gerade ältere und chronisch kranke Menschen enorm profitieren – beispielsweise Patienten, die wegen Infektionen, Herzinsuffizienz oder Chemotherapien bislang regelmäßig stationär behandelt werden müssen. Im Rahmen unserer umfassenden Hybrid-Care-Vision sollten deshalb HaH-Module für ausgewählte Indikationen aufgebaut werden – unterstützt durch Telemonitoring, mobile medizinische Teams und nahtlos integrierte digitale Plattformen.

Ein integriertes Netz für Stadt und Land

Der Weg zu flächendeckender Hybrid Care erfordert drei Hebel:

1. Regulatorische Reformen: HaH muss rechtlich als gleichwertige Krankenhausbehandlung anerkannt werden und im DRG Kontext abrechenbar werden. Hybridpraxen brauchen klare Delegationsregelungen für PAs und HCNs, und Telemedizinquoten müssen ausgebaut werden. Das GVSG und das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) gehen in die richtige Richtung, indem sie neue Abrechnungspauschalen und eine hybride Finanzierung einführen; aber es braucht auch Hybrid-DRGs und intersektorale Verträge (§ 140a SGB V), um innovative Modelle wie HaH wirtschaftlich zu machen.

2. Digitale Infrastruktur und Kompetenzen: Ohne schnelles Internet, interoperable Systeme und sichere Datenplattformen wird Hybrid Care zum Rohrkrepierer. Ländliche Regionen müssen Priorität beim Breitbandausbau erhalten. Gleichzeitig braucht es Aus- und Weiterbildungsprogramme, die Ärztinnen, PAs, CHNs und MFA im Umgang mit digitaler Technologie sowie der Arbeit auf dem Land schulen.

3. Kulturwandel und Patientenzentrierung: Hybrid Care ist mehr als Technik; sie setzt auf Vertrauen, Transparenz und Partizipation. Patienten sollten ihren Gesundheitsstatus via App einsehen, an Therapieentscheidungen beteiligt werden und jederzeit Kontakt zu ihrem Behandlungsteam haben. Einfache Bedienbarkeit, barrierefreie Angebote und Datenschutz sind essenziell.

Fazit: Die Vision einer vernetzten Versorgung

Versorgerpraxen, Telemedizin, mobile Teams und Hospital-at-Home-Konzepte zeigen bereits, dass eine hybride Versorgung Menschen in unterversorgten Gebieten erreichen kann. Wenn wir diese Ansätze in einem integrierten Netz bündeln, entstehen Hybridpraxen und intersektorale Zentren, die ambulante, stationäre und häusliche Versorgung nahtlos verbinden. Ärztliche Expertise bleibt verfügbar, wird aber effizienter eingesetzt; neue Berufsgruppen übernehmen Verantwortung; digitale Systeme schaffen Transparenz und entlasten Bürokratie; Patienten bleiben länger selbstbestimmt in ihren vier Wänden. Diese Vision ist kein Science-Fiction, sondern greift auf bewährte internationale Erfahrungen zurück und passt sie an die Bedürfnisse der Regionen in unterversorgten Regionen Deutschlands an. Sachsen und Brandenburg könnten damit zu Vorreitern einer modernen, patientennahen und zukunftsfesten Gesundheitsversorgung werden – wenn die Weichen jetzt gestellt werden.

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Dr. med. Anne Sophie Platzbecker, MBA