
Prävention braucht Struktur
Prävention ist auch der strategische Erhalt von Gesundheit — und dafür braucht es ein Netzwerk klarer Verantwortlichkeiten und abgestimmter Akteure: im Gesundheitswesen, in der Fachmedizin, im Public-Health-Bereich, im gesellschaftlichen Umfeld und in der Bildungsarbeit. Erkenntnisse hierzu liegen häufig lange vor, bevor sie in der Versorgung ankommen. Wer Prävention strategisch begleitet, erkennt, wie entscheidend der Faktor Zeit ist. Die relevanten Fragen sind: Wie verbindlich setzen wir sie um? Wie priorisieren wir sie politisch? Wie bringen wir Evidenz in die Versorgung?
Bereits mit der Ottawa-Charta von 1986 wurde international formuliert, dass Gesundheit durch strukturelle Rahmenbedingungen ermöglicht werden muss — nicht nur durch individuelles Verhalten. Auch das deutsche Präventionsgesetz von 2015 trägt diesen Leitgedanken, doch in der Umsetzung bleibt der Anspruch häufig hinter den Möglichkeiten zurück. In einem Health-in-all-Policies-Ansatz muss Präventionskommunikation als zentrale Säule verstanden werden: Es braucht eine koordinierende Stelle oder ein klares Mandat, das Präventionskommunikation strukturiert, koordiniert und evaluiert. Health Literacy ist dabei entscheidend für die individuelle Umsetzung von Prävention – sie entsteht durch Orientierung, nicht durch Angstrhetorik.
Erfahrungswissen aus der angewandten Prävention
Durch meine langjährige Arbeit in Präventionsprojekten sowie in wissenschaftlichen Gremien sehe ich, wie Prävention in der Realität greift — und wo sie strukturell gebremst wird.
Ein Beispiel ist die Lebergesundheit. 2013 initiierte ich die erste Aufklärungskampagne zur Lebergesundheit mit ärztlichen Fachgesellschaften und politischen Akteuren. Sie umfasste sowohl das kommunikativ herausfordernde Thema Virushepatitis als auch den damals gering beachteten Bereich der Fettleber. Für Virushepatitis existierten bereits gute therapeutische Optionen, während die Fettleber selbst in Fachkreisen lange unterschätzt wurde. Inzwischen gilt sie als Volkskrankheit. Bemerkenswert ist zudem, dass selbst die Integration einer einfachen Laboruntersuchung zum Screening auf Virushepatitis in die gesetzliche Vorsorge zehn Jahre dauerte — nicht aus fachlichen Gründen, sondern aufgrund administrativer Barrieren.
Ein besonderer Schwerpunkt meiner Präventionsarbeit ist das Lynch-Syndrom — das weltweit häufigste erbliche Tumorrisikosyndrom, etwa so häufig wie Multiple Sklerose oder Typ-1-Diabetes und mit einem hohen Risiko für Darmkrebs, gynäkologische Karzinome und weitere Tumorentitäten. Dennoch sind erst rund fünf Prozent der Betroffenen identifiziert. Hier fehlt es an strukturierter Diagnostik, einem gezielten diagnostischen Blick auf Risikopatienten und sogar an etwas so Grundlegendem wie einem praktikablen ICD-Code, der eine eindeutige Erfassung ermöglicht.
Im Bereich der Frauengesundheit zeigt sich besonders deutlich, wie groß die zeitliche Lücke zwischen Erkenntnissen und Umsetzung sein kann — und wie geschlechtsspezifische Aspekte in der medizinischen Wahrnehmung und Priorisierung lange unterbewertet wurden. Bereits um das Jahr 2000 habe ich Projekte zu Frauengesundheit mit angestoßen — zu Themen wie Gender Health Gap, Herzgesundheit, Lebensqualität und die Behandlung klimakterischer Beschwerden. Zwar wurden geschlechterspezifische Gesundheitsaspekte inzwischen gesundheitspolitisch aufgenommen, doch die konkrete Umsetzung in der Versorgung ist noch im Aufbau.
Prävention als Konstante
Robert Koch sagte, die beste Medizin sei die Prävention. In der traditionellen chinesischen Medizin wiederum galt der Arzt als besonders exzellent, der Krankheiten gar nicht erst entstehen ließ. Diese Perspektiven zeigen: Prävention ist ein historisches Prinzip, doch ihre konsequente Umsetzung bleibt herausfordernd. Gleichzeitig eröffnen digitale Entwicklungen neue Möglichkeiten: Die elektronische Patientenakte, KI-gestützte Risikoanalysen und personalisierte Ansätze erweitern die Prävention um zusätzliche Dimensionen. Doch diese Technologien entfalten ihr Potenzial nur, wenn präventive Strukturen verlässlich verankert sind. Digitale Tools verstärken das, was vorhanden ist — sie ersetzen keine Basis. Wenn wir heute die Strukturen stärken, können wir morgen die Chancen einer zunehmend digital unterstützten Medizin nutzen.
Simone Widhalm ist Medizinerin sowie Kommunikations- und Gesundheitswissenschaftlerin und gilt als Expertin für strategische Gesundheitskommunikation. Zudem ist sie Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Gremien.
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