Als Digital Native kann ich nur den Kopf schütteln

Als ich mit 32 Jahren Krebs bekam, traf mich als Digital Native der analoge Wahnsinn unseres Gesundheitssystems mit voller Härte. Ich musste bitter lernen: So kann es nicht weitergehen!

2020 spürte ich während eines Spanien-Aufenthaltes einen Knubbel im Hals. Nach einem Röntgenbild war klar, dass es noch einen weiteren großen Knoten im Brustkorb gab. Zurück in Deutschland tauchte ich ein ins teuerste Gesundheitssystem Europas, dem ich als junger, bis dahin gesunder Mensch von außen vertraute. Meine Vorbefunde gab ich zur Diagnose und weiteren Behandlung mangels digitaler Exemplare auf Papier ab. Sie waren schlecht gedruckt und noch schlechter kopiert. Ich sollte die spanischen Dokumente eigenständig manuell ins Deutsche übersetzen – inklusive Fachchinesisch. Eines der involvierten Krankenhäuser meldete sich zurück, man hätte zufällig jemanden, der spanisch spräche und informell übersetzen könne. Die gesamte Kommunikation funktionierte (oder eben nicht) auf Papier. Bilder musste ich persönlich oder per Post auf CD oder DVD übergeben.

Ich vermute, dass auch dieser Kommunikationsirrsinn dazu führte, dass das Stadium meines Krebses, ein Hodgkin-Lymphom, in Deutschland nicht richtig festgestellt wurde. Es passte nicht zu den einzelnen Befunden aus Spanien, doch meine Zweifel wurden mehrfach abgewiesen. Erst nach meiner eigentlich letzten (!) Runde Chemo wurde mir mitgeteilt, dass man das Stadium doch falsch diagnostiziert habe. Die Folge: Ich benötigte eine zusätzliche, stärkere Chemo-Therapie. Das entsprach nun keinem Standard-Behandlungs-Schema mehr. Drei verschiedene Ärzte schlugen plötzlich drei verschiedene Therapien vor.

Das ist ein Beispiel von vielen im gesamten Behandlungsprozess, wo digitale, standardisierte Befunde geholfen hätten, Abstimmung, auch international, zu ermöglichen, einwandfrei lesbare Dokumente zu transferieren und so die richtige Einordnung hinzubekommen. Es hätte mir einige Schmerzen, viel Wartezeit und so manchen psychischen Druck erspart. Ganz zu schweigen von den unnötigen Kosten für meine Krankenkasse.

Geradezu lächerlich erscheint mir die Diskussion um Datenschutz im Rahmen der elektronischen Patientenakte, wenn ich mir überlege, wie die Kommunikation mit meinem Hausarzt (nicht) funktionierte: Dieser hatte keine E- Mail-Adresse, sodass alle Befunde zwischen ihm und dem behandelnden Krankenhaus postalisch oder händisch hin- und hergereicht wurden. Wenn es schnell gehen musste, wurden sensible Patienten-Daten über das Fax am Büro-Arbeitsplatz verschickt. Während man unter Freunden Urlaubs-Videos über verschlüsselte Cloud-Lösungen mit einem Klick teilen kann, schickte ich DVDs postalisch durch die Republik. Selbst auslesen konnte ich sie kaum, da Rechner mit DVD-Laufwerk in meinem Alltag kaum noch vorkommen. Ich arbeite seit Jahren für die Automobilbranche, wo es selbstverständlich ist, dass jede neue digitale Errungenschaft unmittelbar für den Verbraucher und zu dessen Vorteil zugänglich gemacht wird. Ich wünschte, ich könnte das auch für den Gesundheitsbereich behaupten.

Besonders irrsinnig fand ich, wie oft mir an verschiedenen Stellen Blut abgenommen wurde und wie inexistent der Austausch darüber war. Meine geplagten Venen und die gestohlene Zeit gingen über in meine Vision: Daten müssen auf möglichst einfachem Weg in Patientenhände gelangen! Gesagt getan – ich kontaktierte über Facebook einen engagierten Entwickler, der eine ganz ähnliche Idee hatte. Zusammen schufen wir einen Prototyp für eine Blutwerte-App (s. Kasten). Durch sein Entwicklungs-Know-How kombiniert mit meinem Fachwissen in User Experience und meinem Patienten-Alltag konnten wir beweisen: Es ist kein Hexenwerk; mit Kleinigkeiten kann man personalisierte Medizin realisieren. Ich selbst profitierte davon, in dem ich etwa dank meiner App-Einträge einem Chefarzt belegen konnte, dass meine Blutwerte im Chemo-Zyklus nicht wie durchschnittlich üblich an Tag x im Keller waren, sondern an Tag y. Er nahm meine persönliche Datensammlung, die ich danke der App immer in der Hosentasche hatte, ernst. Ich wurde individuell richtig behandelt und es ging mir besser. Für die App gemachte Umfragen zeigten, dass sich sehr viele Patienten genau diese Möglichkeit der Datensammlung und -Analyse in ihrem Alltag wünschten.

Für jemanden, der beruflich täglich Prozesse digitalisiert, ist es nicht nachvollziehbar, wie eine Fülle an realen Patienten-Daten ungenutzt „verstaubt“, nicht hilft, Leben zu retten und die Gesundheitsversorgung besser, schneller und günstiger zu machen.

Mein Appell: Befähigt Patienten durch Daten und lasst sie entscheiden, mit wem sie was teilen wollen!

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Julian Stiber
freiberuflicher UX-Manager und betreut als solcher auch die YES!APP von yeswecan!cer, Deutschlands größter digitaler Selbsthilfegruppe für Krebs.