Das Potenzial von Telemedizin

Deutschland, bekannt für seine Gründlichkeit, seine Pünktlichkeit und seine Liebe zum Wartezimmer, hat endlich den Sprung ins digitale Zeitalter gewagt. Während bis 2018 telemedizinsche Behandlungen in Deutschland noch dem Fernbehandlungsverbot unterlagen, fanden in 2021 bereits 3.5 Mio. telemedizinische Behandlungen statt (vs. 2.9 Mio. in 2020, 3 Tsd. in 2019). Das Potenzial ist noch viel größer, aber das Land kämpft mit technischen und regulatorischen Problemen.

Politische Entscheidungsträger und kassenärztliche Vereinigungen zögern weiter, der Telemedizin denselben Status einzuräumen wie dem persönlichen Arztbesuch. Nachdem die KBV zwar angekündigt hat, die 30%-Limitierung in Q1 2024 aufzuheben, werden für eine Konsultation per Videosprechstunde je nach Fachgruppe weiterhin Abschläge von bis zu 30% auf die Vergütungspauschalen angewendet. Dabei könnte eine vollständige Integration der Telemedizin in unser Gesundheitssystem die Kosten signifikant senken, ohne Abstriche bei der medizinischen Qualität machen zu müssen.

Eine Umfrage der Bitkom zeigt, dass deutsche Patienten Telemedizin mehr nutzen wollten: 79% der Befragten wünschen sich, dass das Angebot von Videosprechstunden ausgebaut werden sollte. Doch schaut man auf den Markt, so haben sich in den letzten Monaten wiederholt Anbieter aus dem Bereich der Telemedizin zurückgezogen.

Die Verbliebenen lassen sich in vier Kategorien aufteilen: Plattformen, D2C-Anbieter (Direct-to-Consumer), SaaS-Provider und klassische Gesundheitsunternehmen. Während es in der ersten Kategorie vor einem Jahr noch mehrere Anbieter gab, ist TeleClinic aktuell der einzige Plattform-Anbieter in Deutschland, bei dem Patienten einen Videocall auch für eine Erstkonsultation mit einem Arzt vereinbaren können. Mit einem Anstieg der Behandlungen auf der TeleClinic-Plattform um +88% von 2021 auf 2022, und einer weiterhin sehr positiven Entwicklung, sehen wir Tag für Tag, dass das Potenzial enorm ist, und nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte ein großes Interesse an Telemedizin zeigen und die vielen Vorteile wertschätzen. Auf dem Weg bis hier, galt es vor allem drei Nüsse zu knacken: einen skalierbaren Weg zur Akquise von GKV-Ärzten zu finden, das Angebot und die Nachfrage auf der Plattform dabei im Gleichgewicht zu halten, und sicherzustellen, dass TeleClinicnachhaltig und profitabel wirtschaften kann. Inzwischen zeigt sich, dass Telemedizin sich vor allem bei der Akutversorgung, für Patienten, die keinen eigenen Hausarzt haben, und im Bereich Kinder- & Jugendmedizin gut etabliert hat.

Doch neben den Plattform-Anbietern ziehen sich auch mehr und mehr D2C-Anbieter aus dem Markt. Verbleibende Unternehmen fokussieren sich zunehmend auf Ökosystem-Lösungen und öffnen ihre Schnittstellen für externe Partner. Auch TeleClinic hat begonnen, Partnern bspw. White-Label-Lösungen anzubieten, um den Zugang zu Telemedizin für Patienten noch einfacher zu gestalten.

Aus regulatorischer Sicht ist inzwischen zumindest ein erster Schritt getan: das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat eine Digitalisierungsstrategie erarbeitet, die u.a. eine Aufhebung der 30%-Limitierung ankündigt und einen niedrigschwelligen Zugang zur Versorgung durch Fachpersonal-assistierte Telemedizin einführen möchte.

Um das Potenzial der Telemedizin in Deutschland voll zu entfalten, ist neben der Regulatorik die Technik die zweite große Stellschraube, insbesondere die Telematikinfrastruktur und die elektronische Patientenakte (ePA). Nach Angaben des BMG sollen bis 2025 80% der gesetzlich Versicherten über eine ePA verfügen. An der ePA arbeitet die Gematik schon seit mehr als 20 Jahren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach spricht daher von einer benötigten Aufholjagd. Diese beginnt nun mit dem elektronischen Rezept und geht weiter mit der elektronischen Patientenakte.

Das geplante Digitalgesetz soll den Behandlungsalltag für Ärzte und Patienten mit digitalen Lösungen vereinfachen. Ein wichtiger und richtiger Schritt, denn mit einer Zentrierung auf die Hauptakteure, also auf Ärzte und Patienten, und einem effizienteren Umgang mit den finanziellen Mitteln, lässt sich unser Gesundheitssystem erfolgreich für die Zukunft positionieren.

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Johanna Stockdreher
CFO I TeleClinic, Longevity Enthusiast