Bürokratie im Gesundheitswesen und deren Überwindung
Istok Kespret, Jahrgang 1966, Bankkaufmann, Betriebswirt und Informatiker ist mit seiner Firma HMM Deutschland seit 2006 speziell und ausschließlich im Gesundheitswesen tätig. Von Anfang hat er schwierige Prozesse im Gesundheits-wesen digitalisiert. Seit 2010 ist er ein Treiber der Digitalisierung in der Hilfsmittelversorgung. Mit seinen Ideen und Produkten trifft er nicht nur auf Zustimmung in der Branche. Manch einer bezeichnet ihn als schillernde Figur. Istok Kespret legt regelmäßig den Finger in die Wunde und geißelt Bürokratie und Trägheit und die daraus resultierenden Folgen für Patienten, Patientinnen und das ganze System.
Istok, bei der BIG BANG HEALTH Veranstaltung in Essen hast Du Deine Präsentation der HMM gesungen. Mal ein völlig neuer Ansatz, der immer noch in Erinnerung ist. In dem Song ging es um Stillstand in der Gesundheitsadministration und um das „Bürokratier“. Was meinst Du damit?
Ja, manchmal muss man auch mal einen anderen Ansatz finden, um wichtige Messages zu transportieren. Das scheint hier gelungen zu sein. Das „Bürokratier“ ist bzw. war in aller Munde. Ich meine damit Prozesstechnologien aus einer anderen Zeit ohne leistungsfähige IT-Unterstützung und vollständig auf Papier, basierend auf mäßigen Fallzahlen und vielen Menschen, die dieses Papier bearbeiteten. Das alles hat sich massiv geändert. Aber trotz stark gestiegener Fallzahlen, einer alternden Bevölkerung und völlig überlasteter Administration, einer überbordenden Regelungswut des Gesetzgebers wird nach wie vor auf nicht skalierbare, fehlerhafte, langsame, teure papierbasierte Verfahren gesetzt. Dies spüren alle Patienten, Ärzte, Krankenhäuser und beteiligte Dienstleister – w,m,d - im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib. Das bezieht sich vor allem auf Zugang zu Gesundheitsleistungen, Terminservices, noch mehr auf genehmigungspflichtige Leistungen und auf die Abrechnung für medizinische Leistungsbringer. Neben dem sehr komplexen Rahmen, den Gesetzgeber und Körperschaften definieren, nutzen Krankenkassen und Leistungserbringer vertragliche Spielräume aus und schaffen eine unglaubliche Komplexität auf der Mikroebene, die auf die konventionelle Bearbeitungsweise nicht mehr zu schaffen ist. Kein Wunder, dass Leistungserbringer aber auch der Spitzenverband der Krankenkassen nach eine „Entbürokratisierung“ rufen. Alle zusammen stecken wir in einer Komplexitätsfalle!
Das Gesundheitsministerium setzt auf die ePA und das eRezept. Sind das nicht genau die Werkzeuge, um die administrativen Prozesse zu verbessern?
Die ePA wird nach schwierigen Anfangsjahren die medizinische Dokumentation digitalisieren und enorm erleichtern. Da stehen wir vor einem großen Umbruch. Das eRezept als Prozessträger für Arzneimittel bildet eigentlich einen recht einfachen
Prozess ab. Insofern muss man sich wundern, wie unfassbar langsam und zäh und erfolglos die letzten Jahre waren. Um wieviel schwieriger wird dann die Abbildung eines viel komplexeren Prozesses – beispielsweise des Hilfsmittelversorgungsprozesses - mit viel mehr beteiligten Parteien und komplexen Prüfungen und Schritten? Ich schätze also, dass es noch einige Jahre dauern wird, bevor das zu einem übergreifenden Standard führt. Und ich vermute, dass die gematik hier nicht auf der grünen Wiese wird bauen wollen, sondern ich gehe davon aus, dass man die Erfahrung der etablierten Dienstleister mit in das digitale Lösungsdesign einbeziehen wird. Und wir als HMM bauen mit an genau an diesem Lösungsprozess, und wir können unsere fast 20jährige Erfahrung in diesem Bereich einbringen. Darüber hinaus sind wir an vielen Projekten und Prozessen beteiligt, die – von eVerordnung beim Arzt bis hin zu digitalen Direktabrechnungen – bereits millionenfach ihre digitale Tauglichkeit unter Beweis gestellt haben.
Dann machen wir es doch mal konkreter. Kannst Du ein Beispiel für die angesprochenen Komplexität geben?
Aber sicher, das ist mein täglich Brot. HMM ist Spezialist für antrags- und genehmigungspflichtige Versorgungen. Daher bleiben wir in diesem Bereich. Ich schildere mal das übliche Umfeld und Szenario einer Hilfsmittelversorgung: an einer Hilfsmittel-versorgung sind in der Regel beteiligt ein Arzt, ein Patient, ein Hilfsmittelversorger, eine Krankenkasse, ein Logistiker und ein Abrechner. Die heute im Wesentlichen auf Papier basierende Abstimmung zwischen all diesen Beteiligten führt zu langen Wartezeiten bei der Genehmigung, zu hohen Personalanforderungen bei Krankenkassen und zu absurden Prozessen bei der Abrechnung. Das ist so schlimm, dass es in den letzten Quartalen, als wir in Deutschland Inflation, steigende Zinsen und Kosten zu verzeichnen hatten, zu betriebsexistenz-bedrohenden Situationen gekommen ist. Dieser „Stresstest“ ist gründlich danebengegangen. Und sollte eigentlich aufwecken, weil allen klar ist, dass es so nicht weitergehen kann.
Das klingt dramatisch. Was läuft konkret schief?
Hilfsmittelversorgungen sind vertragsbasiert. Jede Krankenkasse hat mit vielen Leistungserbringern und vielen Leistungserbringer-Verbänden. Regional überlappend, für jedes Bundesland oder KV-Region. Verträge laufen ab, werden verlängert, geändert. Und während der Laufzeit können Leistungserbringer beitreten oder auch ausscheiden. Das ergibt eine sehr große Datenmenge, für die jeder Beteiligte selber verantwortlich ist: Und so müssen Leistungserbringer aus Verordnungen Kostenvoranschläge machen - ein anspruchsvoller Prozess - und sie den Krankenkassen schicken. Die Krankenkassen müssen alle eingehenden Kostenvoraschläge prüfen. Das ist so aufwändig und teuer, dass Krankenkassen einen Großteil der Versorgungen gar nicht mehr prüfen und sie direkt zur Abrechnung schicken lassen. Das Fatale ist: dadurch, dass nicht geprüft und genehmigt wurde, können Leistungserbringer nicht sicher sein, ob ihre anschließende Abrechnung richtig ist. Der Fehlerfaktor ist unglaublich hoch. Man kann davon ausgehen, dass 10% bis 15% aller Abrechnungen von Absetzungen, also Kürzungen, bedroht sind. Und weil das Prüfen von Abrechnungen, und Überweisen und Einbehalten und Rückfordern und Verrechnen so kompliziert und langwierig ist, haben sich Dienstleister eingerichtet, die diese Aufgaben für Leistungserbringer und Krankenkassen durchführen. Damit ist der Gesamtprozess auf Jahrzehnte zementiert und hat mittlerweile viele Milliarden Euro gekostet, die natürlich am Ende von den Krankenkassen bzw. der GKV bezahlt wurden und weiterhin werden.
Und was ist nun deine Kritik? Müssen wir nicht einfach abwarten, bis das Bundesgesundheits-ministerium einen umfassenden Standard für diesen und ähnliche Versorgungsprozesse definiert?
Das könnte man tun warten, aber ich glaube, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis ein gesetzlicher Standard den gesamten Versorgungsprozess von A bis Z, also von Arzt bis Zahlung, beschrieben oder gar in Gang gesetzt. Und wir reden von Versorgungen für Hilfsmittel, Pflege und Krankenpflege, Heilmittel und Krankenfahrten. Insgesamt sprechen wir hier über viele hunderttausend Heilberufsvertreter und Ärzte.
Also ist alles hoffnungslos? Was ist die Alternative?
Ganz im Gegenteil. Im Hilfsmittelprozess hat sich die gesamte Branche in den letzten Jahren organisiert und selbständig – ohne besondere Vorgaben des Gesetzgebers einen allgemein verfügbaren telematischen Standard für den Datenaustausch für Antrags- und Genehmigungsdaten definiert und umfassend in Gang gesetzt. Das ist ein unglaublich großer Vorteil gegenüber all den anderen Versorgungsprozessen, die alle bei Null anfangen müssen bzw. mussten.
Aber, wenn ich das mal interpretiere, reicht das noch nicht aus, oder?
Das bislang Erreichte ist großartig und hat zu großen Verbesserungen geführt, aber die eigentlichen Probleme sind noch nicht gelöst. Hier ziele ich insbesondere die hohen Kosten und die Dauer des Antrags- und Genehmigungsverfahrens und die aus der Historie verständliche aber mittlerweile überkommene Trennung des Genehmigungsprozesse. Und dann kommt noch der komplexe, anachronistische, teure und auch umweltbelastende Abrechnungsprozess. Das zusammen treibt alle in den Wahnsinn: Krankenkassen, Leistungserbringer und vor allem Patienten. Das muss sofort geändert werden.
Welche Lösungsansätze gibt es? Wer treibt es?
Das Thema „Entbürokratisierung“ ist gerade aufgrund massiver Patientenbeschwerden aber auch wegen des Kostendrucks in der Diskussion. Aber: es gibt viel „Kleinstaaterei“. Fast jede Krankenkasse hat eigene Vorstellungen und technische oder vertragliche Lösungen. Jede Krankenkasse möchte es anders und individuell. Damit werden natürlich die Prozesse für die beteiligten Ärzten und Leistungserbringer deutlich erschwert. Manche sehen dann ihr Heil dann in vermeintlich einfachen Lösungen, die die lauten: „wenn ich nicht effizient und gut genehmigen kann, dann schaffe ich die Genehmigung halt ganz ab“. Oder „Wenn die Preisermittlung so schwierig sind, dann müssen wir halt Einheitspreise machen“.
Das hört sich doch gut an. Freier Zugang für alle ohne Probleme. Oder nicht?
Ich habe da meine Zweifel. Beispielsweise ist der Zugang zur ambulanten Versorgung frei für jeden. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass wir deshalb die beste mögliche Administration haben. Stattdessen wurde eine komplizierte Back-Office-Bürokratie geschaffen, die so viel Aufwand und Zeit erfordert, dass zu wenig Ressourcen vorhanden sind und den Zugang zur ambulanten Versorgung schwierig macht: Termine sind rar und schwer zu bekommen und liegen oft in weiter Ferne. Meine Meinung ist, dass im Zeitalter unfassbarer technischer Möglichkeiten solche „einfachen Lösungen“ nicht ernsthaft erwogen werden dürfen. Der Einheitsprozess mit Einheitsprodukten zu Einheitspreisen, weil man Vielfalt und Kundenorientierung nicht in den Griff bekommt ist der falsche Ansatz.
Ich nehme an, Du hast einen besseren Vorschlag.
Ja, durchaus. Der Vorschlag kommt direkt aus der Praxis, viele Millionen mal genutzt und bewährt und daher eine gute Basis für weitere Schritte. Wir sind bereit, unsere Fähigkeiten und Erfahrungen mit Krankenkassen und Leistungserbringern zu teilen und in Zusammenarbeit konkrete Lösungen zu erarbeiten, die das Potenzial haben, die Effizienz und Effektivität der Prozesse erheblich zu steigern. Dabei können wir auf unsere etablierte Plattform X3.NET zurückgreifen, die bereits eine breite Akzeptanz in der Branche hat. Denn am Ende geht es um das Wohl unserer Patienten und die Nachhaltigkeit unseres Gesundheitssystems. Zusammen können wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben und so für eine bessere und effizientere Versorgung sorgen.
Das klingt sehr politisch korrekt, geht es auch etwas konkreter?
(lacht). Unsere These ist, dass Patienten einen Anspruch auf die passende Versorgung haben müssen: sie sollen standardisierte oder individuelle Produkte und Leistungen in Anspruch nehmen können, regional oder überregional. Und sie müssen sich dessen bewusst sein und ihre Versorgung beobachten oder gar steuern können. Um dies sinnvoll erreichen zu können, gibt es meiner Meinung nach nur eine Lösung: konsequente Digitalisierung! Das „magische Dreieck“ hierfür ist Erstens: Die digitale Vertragsdatenbank, zentral für alle verfügbar: an die sind Krankenkassen und Leistungserbringer digital angebunden. Leistungserbringer können alle aktuellen Verträge mit den Krankenkassen zur Nutzung von Antrag und Abrechnung nutzen. Das garantiert fehlerfreie Daten. Und Krankenkassen nutzen dieselben Daten für Genehmigungs- und Rechnungsprüfungsprozess. Das garantiert allerhöchste Automatisierbarkeit und Skalierung. Zweitens: Die automatisierte digitale Antragsprüfung durch die Krankenkassen. Dadurch sinken die Kosten für den Genehmigungsprozess bei den Krankenkassen auf einen Bruchteil. Darüber hinaus kann die historisch vordigital bedingte Trennung in „Genehmigungspflicht“ und „Genehmigungsverzicht“ sofort überwunden werden, weil die regelbasierten Systeme Prüfungen zu Grenzkosten nahe Null durchführen können. Das ändert alles! Und schließlich kann Drittens auf dieser Grundlage auch die klassische papierbasierte teure Abrechnung sofort neu gestaltet und durchgeführt werden - quasi als „digitales Abfallprodukt“ aus dem digitalen Vorprozess. Alle rechtlichen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen dafür sind gegeben und millionenfach erprobt. Die Folge davon sind skalierbare Prozesse, Patienten müssen nicht mehr warten, das Personal bei Krankenkassen kann effizienter und entspannter arbeiten, es entstehen deutlich weniger Kosten für Genehmigungen, direkte per se korrekte Abrechnung zwischen Krankenkassen und Hilfsmittelversorgern, was sofort auch hier zu sinkenden Transaktionskosten führt. Es geht eigentlich nicht besser.
Klingt wie ein No-Brainer. Warum passiert es nicht?
Völlig klar ist, dass digitale Transformationsprozesse in Unternehmen bzw. Organisationen immer schwierig sind. Darüber hinaus sind die vorherrschenden Themen in der Diskussion andere: Finanzierung der GKV, Krankenhausfinanzierung, Pflege, Apotheken, Digitalisierung bei ePA, eRezept. Identitätsmanagement, gematik und so fort. Der Hilfsmittelprozess bekommt ja leider nur einen vergleichbar kleinen Teil der Aufmerksamkeit. Dabei sind für Patienten gerade jene Prozesse besonders präsent und wichtig, bei denen Krankenkassen eine Gatekeeper-Position einnehmen. Hier entscheidet sich, ob eine Krankenkasse aus Sicht von Patienten „gut“ ist, oder „schlecht“ abschneidet. Und es ist ja nicht so, dass die Hilfsmittelversorgung nicht funktioniert. Alle Krankenkassen haben sich irgendwie organisiert. Manche moderner, manche weniger modern. Aber immer mit viel Aufwand und Bürokratie.
Inwieweit beeinflusst die ePA oder das eRezept den Versorgungsprozess der HMM?
ERezept und die Anbindung des Hilfsmittelprozesses an die ePA werden kommen, mit Sicherheit. Die Frage ist nur, wann. Die ePA ist ja so langsam da. Und sobald die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, werden die Plattformen von HMM alle erforderlichen Daten in die ePAder Patienten übertragen. Und HMM arbeitet heute bereits an dem eRezept-Prozess für Hilfsmittel bei Ärzten, Krankenkassen und Leistungserbringern und hat bereits viele Tausend Versorgungen auf dieser Basis abgewickelt. Man kann also sagen, dass wir vorbereitet sind auf all das, was da kommen mag. Wenn das eRezept also kommt, dann wird die HMM-Plattform sofort in der Lage sein, es im Sinne der Kunden und Patienten zu nutzen. Und vielleicht motiviert es Krankenkassen und Leistungserbringer ja, dass sie bereits heute ein System benutzen, welches in Zukunft das elektronische Hilfsmittelrezept und die ePA ansatzlos weiterverarbeiten und nutzen kann. Keiner muss warten.
Ein schönes Schlusswort. Um jetzt eine Brücke zum Beginn des Interviews zu schlagen: Was ist mit der Gesangskarriere?
(lacht) Ich werde ja nicht ewig die Geschicke der HMM leiten. In der Zwischenzeit singe ich, um die Menschen auf meine zweite Karriere als Schlagerstar vorzubereiten? Wir werden sehen!
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