
Künstliche Empathie und der Gewinn der Zeit
Laut Thomas von Aquin (1225 – 1274 n.Chr.) gehört zur (ärztlichen) Klugheit auch das „Sich-etwas-sagen-lassen-können“. Das sei ein Zeichen menschlicher Größe und ärztlicher Souveränität und wurde gerade in der Medizin lange überdeckt durch eine gegebene (faktische) oder natürliche (menschliche) Autorität. Aber die speziellen Fragestellungen und täglichen Herausforderungen jedweder Art werden zunehmend schwieriger und aufwendiger.
Ein wichtiger Teil natürlicher Klugheit ist wiederum laut Thomas von Aquin die Fähigkeit auch komplexe Situationen schnell zu erfassen und möglichst umgehend die richtige Entscheidung zu treffen. Für schnelle und verlässliche Antworten wollen wir in Zukunft auch eine künstliche Intelligenz (KI) nutzen. Werden wir aber die intelligenten bzw. künstlichen Lösungen von zunehmend lernenden Computern und Algorithmen („generative KI“) akzeptieren oder werden wir die (rechtlich-ethischen) Hürden für eine Akzeptanz in unserer täglichen ärztlichen und wissenschaftlichen Praxis (privat lassen wir es ja in den sozialen Medien meist schon umfassend zu) aufgrund von Ängsten und Zweifeln höher bauen? Eine der ersten Fragen zur Allgemeingültigkeit von mathematischen Lösungen schon vor mehr als einem Jahrhundert war, ob es einen Algorithmus geben kann, der bei der richtigen Entscheidung von komplexen Fragestellungen wie der Diagnose einer Krankheit und dem Auswählen einer möglichst individuellen und präzisen Therapie helfen kann. Der Göttinger Mathematiker David Hilbert formulierte schon 1900 diese Frage als das sogenannte „Entscheidungsproblem“. Aber erst 1936 konnte bewiesen werden, dass es hierfür keine eindeutige Antwort geben kann. Heute versuchen wir dennoch die „black oder grey box“ der künstlichen Intelligenz mithilfe von „Explainable AI“ für uns verständlicher und nachvollziehbarer zu machen. Als unmittelbare Konsequenz aus dem Hilbert’schen Entscheidungsproblem entwickelte Alan Turing 1937 das Prinzip der Turingmaschine, um intuitiv berechenbare Probleme zumindest schneller lösen zu können. Daraus ergab sich tatsächlich, dass wir zumindest eines gewinnen: Zeit! Notwendige Voraussetzung ist aber die Einheitlichkeit der verfügbaren und berechenbaren Daten, sowieso der verwendeten Programmiersprachen. Gerade das Fehlen von ausreichend Zeit hat die Medizin und auch die medizinische Forschung fast unmenschlich gemacht. Der amerikanische Arzt Eric Topol erläutert in seinem Buch „Deep Medicine“ wie KI hier helfen kann. Laut Topol kann KI das Verhalten und die Tätigkeiten der Ärzte grundlegend verändern, von der Anamnese bis hin zur Behandlung und Therapie. KI schafft für den Arzt und die in der medizinischen Versorgung Tätigen erneut die notwendigen Freiräume, um dem Patienten wieder sorgfältig zuhören zu können.
Auch der deutsche Philosoph Richard David Prechtbetont: „Wir brauchen nicht mehr Zeug, wir brauchen jetzt mehr Zeit.“. Nun, „Zeug“ wie Serverfarmen, Cloud-Lösungen bis hin zu Quantencomputern und Chatbots sind schon da und werden auch noch immer intelligenter zur Verfügung stehen. Aber das „Zeug“ an sich sollte nicht noch mehr unsere Zeit beherrschen, sondern die ersehnten und notwendigen Freiräume schaffen, sowohl für das empathisch-menschliche, aber auch für das Neue. Eine radikale Effizienzoptimierung sollte nicht nur zur Optimierung des Status quo genutzt werden, sondern auch wieder Raum und Zeit schaffen für die Beziehung zwischen Arzt und Patient.
In ihrem Artikel in „Die Zeit“ schreibt Carolin Würfel, dass es allerdings ein Irrglaube sei, dass nur eine verfügbare Zeit eine verlorengeglaubte Empathie zwischen Arzt und Patient wieder zurückbringt. Nach ihrer Auffassung reicht Einfühlungsvermögen aus dem berühmten Bauch heraus nicht aus, um Bedenken gegenüber Neuerungen in der Medizin zu überwinden. Dazu sind der Verstand und ein zunehmendes Verständnis ebenso wichtig. Der Psychologe Paul Bloom geht sogar noch weiter und fordert, dass Empathie insbesondere im Hinblick auf die zukünftigen medizinischen Herausforderungen weichen soll, um so neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dazu bräuchten wir eben eine KI, die eine „vernünftige Haltung und ärztliche Handlung“ zuverlässig unterstützt. Es muss unser Ziel sein, mittels KI dauerhaft zu lernen und zu verstehen und die gewonnene Zeit zum Wohle unserer Patienten in der wissenschaftlichen Forschung und täglichen Praxis einzusetzen.
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