Ambient Intelligence in der Arztpraxis: Die Zukunft der medizinischen Versorgung
Was bis vor kurzem noch als Zukunftsvision galt, wird durch die rasanten Fortschritte in der künstlichen Intelligenz (KI) zunehmend Realität: Ambient Intelligence zieht in die me- dizinische Versorgung ein. Diese Technologie könnte Ärzte von der Last der administrativen Aufgaben befreien und die Interaktion zwischen Arzt und Patient erheblich verbessern.
Die Herausforderung der Dokumentation
Elektronische Patientenakten (ePA) haben die medizinische Dokumentation revolutioniert, sind jedoch oft eine zeitraubende Bürde. Studien zeigen, dass administrative Aufgaben bis zu 60 % der Untersuchungszeit beanspruchen können. Ärzte sind häufig gezwungen, während eines typischen 8-minütigen Arztbesuchs unzählige Klicks auszuführen – für viele eine ineffiziente Nutzung wertvoller Zeit. Zwar bieten Computer gegenüber Papierakten erhebliche Vorteile, doch die Bürokratie überlastet das medizinische Personal weiterhin. Dies führt nicht nur zu ineffizienten Abläufen, sondern auch zu einem erhöhten Risiko von Burnout bei den Ärzten. Die nächste Evolutionsstufe in der Digitalisierung, die Ambient Intelligence, verspricht hier Abhilfe. Erste Pilotprojekte zeigen bereits vielversprechende Ergebnisse.
Mehr Zeit für den Patienten dank KI
Ein bemerkenswertes Beispiel für den Einsatz von Ambient Intelligence kommt von Kaiser Permanente, einem der größten Gesundheitsdienstleister in den USA. Über 3.400 Ärzte testeten ein KI-System, das automatisch elektronische Patientenakten erstellt. Eine Smartphone-App transkribiert die Gespräche zwischen Arzt und Patient und überträgt die Daten zur Verarbeitung in die Cloud. Mithilfe von Natural Language Processing (NLP) werden diese Informationen den entsprechenden Kategorien in der ePA zugeordnet, beispielsweise für Diagnosen oder Medikationen. Der Arzt muss lediglich die Genauigkeit überprüfen und gegebenenfalls Anpassungen vornehmen. Die Ergebnisse sind beeindruckend: In einer Studie, die im März 2024 auf Nejm Catalyst veröffentlicht wurde, gaben 81 % der Patienten an, dass ihre Ärzte weniger Zeit vor dem Computer verbrachten und mehr Zeit für das Gespräch hatten. Die Qualität der automatisch erstellten Dokumentationen übertraf oft die von Hand erstellten Aufzeichnungen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Ambient Intelligence die Arbeitsbelastung von Ärzten erheblich verringern und gleichzeitig die Qualität der Patientenversorgung verbessern kann.
Hürden auf dem Weg nach Deutschland
Während Ambient-Intelligence-Lösungen in den USA bereits in großen medizinischen Zentren getestet und eingesetzt werden, steht deren Einführung in Deutschland noch vor einigen Herausforderungen. Zum einen arbeiten die meisten generativen KI-Modelle bisher besser auf Englisch als auf Deutsch. Dies wird sich jedoch durch die zunehmende Entwicklung spezieller Modelle für das Gesundheitswesen, wie etwa Googles Med-PaLM, bald ändern. Ein weiteres Hindernis sind die derzeit noch begrenzten Cloud- Infrastrukturen in vielen deutschen Arztpraxen. Während große Kliniken bereits vermehrt auf Cloud-Lösungen setzen, hinken kleinere Praxen noch hinterher. Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich der Kosten und der Einhaltung der Datenschutz- Grundverordnung (DSGVO). Obwohl es möglich ist, Daten sicher in europäischen Clouds zu verarbeiten, fehlt es noch an klaren Leitlinien und rechtlichen Rahmenbedingungen.
Das Potenzial der Ambient Intelligence
Die automatische Erstellung von Krankenakten ist nur ein kleiner Teil dessen, was Ambient Intelligence leisten kann. Künftig könnten Sensoren, Kameras und Wearables vielfältige Biomarker erfassen und analysieren, um dem Arzt bereits vor der Untersuchung umfassende Einblicke in die Gesundheit des Patienten zu geben. So könnten beispiels- weise intelligente Stühle Blutdruck und Herzfrequenz messen oder Kameras Gesichtsausdrücke analysieren, um Hinweise auf psychische und körperliche Zustände zu liefern. In Krankenhäusern könnte Ambient Intelligence vor Stürzen warnen oder die Arbeit im Operationssaal überwachen. Im häuslichen Umfeld könnten Smartwatches bei Stürzen automatisch Hilfe rufen oder Herzrhythmusstörungen frühzeitig erkennen. Die fortschreitende Forschung entdeckt ständig neue Biomarker, die Hinweise auf Krankheiten geben, bevor sie sich klinisch manifestieren.
Ausblick und Herausforderungen
Die Einführung von Ambient Intelligence wird die Gesundheitsversorgung grundlegend verändern. Doch die Entwicklung muss sorgfältig erfolgen, um die Privatsphäre der Patienten zu schützen. Der Einsatz solcher Technologien erfordert immer die Zustimmung der Patienten und darf nicht zur Erstellung von Profilen missbraucht werden – ein Anliegen, das durch das neue europäische KI-Gesetz geregelt wird. Experten prognostizieren, dass sich Ambient-Intelligence-Systeme in den nächsten 5 bis 15 Jahren rasant weiter- entwickeln werden. Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung hat das Potenzial, die Patientenbetreuung erheblich zu verbessern, doch der Weg dorthin erfordert sorgfältige Planung und den Abbau bestehender Hürden.