Sinn und Unsinn auf LinkedIn

Über Oberflächenkompetenz, Fassadengelehrsamkeit und Tiefenwissen auf LinkedIn. Und warum der Kalenderspruch manchmal doch einen tieferen Sinn hat. Was ich mir wünsche, ist mehr kritische Auseinandersetzung („critical thinking“) mit den Inhalten und den Ergebnissen, die sie bei anderen auslösen. Bei Rotary gibt es die 4-Fragen-Probe, die Herbert J. Taylor 1932 aufgestellt hat. Ist es wahr? Ist es fair für alle Beteiligten? Wird es Freundschaft und guten Willen fördern? Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen? Wenn man über Sinn und Unsinn von LinkedIn spricht, dann gibt es für mich zunächst und vor allem im Gegensatz zu anderen sozialen Medien wie Facebook, Instagram, X, TikTok und Co. deutlich mehr Sinn und weniger Fake News, Mythen oder gar Lügen. Aber das ist noch ausbaufähig. Auch die Diskussionskultur.

Ein Problem ist, dass wir alle keine Zeit mehr haben. Keine Zeit, Inhalte oder Gedanken zu vertiefen. Wir sind nur noch Fastfood fürs Gehirn im Sekunden-TikTok-Takt gewohnt. Ein längerer Text mit mehr als 5 Minuten Lesezeit ist nicht mehr zumutbar und mit dem Alltag vereinbar. Tiefe Durchdringung wie beim literarischen Quartett im ZDF war gestern, heute geht es um oberflächliche Inspiration. Das merke ich selbst oft. Ich habe hier auch schon richtig gut recherchierte Texte als Originalarbeiten zu sehr speziellen Fachthemen veröffentlicht: Es hat nur niemanden interessiert. Die ersten Reaktionen auf meine LinkedIn-Newsletter waren: „Viel zu lang, du spinnst! Max. eine halbe Seite und das ist schon Oberkante.“ Wenn also weder der Autor noch der Leser Zeit haben, bleibt am Ende nur Zeit für ein schönes Bild, ein paar kurze Hauptsätze, dazwischen jeweils ein Absatz, es muss ja übersichtlich bleiben! Und vielleicht noch eine fette Überschrift, nicht gut für die automatische Worterkennung, aber gut fürs Auge. Ein paar Emojis und maximal 3 Hashtags - voilà.

Und ganz neu. Diese tiefsinnigen ChatGPT-Texte, die lexikalisch einführen, dann stichpunktartig abarbeiten und mit „Zusammengefasst kann man sagen, dass“ enden, denen man schon von weitem anmerkt, dass sie nicht selbst geschrieben sind. Das ist so, als würde man bei einer Firmenfeier vorgeben, einen Kuchen selbst gebacken zu haben, den man aber vorher als Tiefkühlware beim Discounter schnell zum Aktionspreis ergattert hat. Und jetzt kommt die Wende im Artikel.

Der aufmerksame Leser hätte es auch ohne diese beiden Sätze herausgefunden. Je nachdem, welche Strategie man verfolgt, kann es Sinn machen - keinen tieferen inhaltlichen Sinn, aber einen strategischen zu verfolgen. Es muss nicht immer etwas zum Lernen sein. Es kann auch einfach Unterhaltung sein, Spaß, Freude, Aufmunterung. Auch das ist eine Form von Kunst, in unserer „Schlechtwetter-man-regt-sich-gerne-auf“-Gesellschaft. Wer es schafft, vor dem verneige ich mich. Wer Erfolg hat, der hat Recht oder soll einfach weitermachen, wenn es welche gibt, die es gut finden. Bei mir ist zum Beispiel mal ein Schildkrötenvideo viral gegangen, wo ein halbes Dutzend Schildkröten im Wasser waren und eine quasi auf dem Rücken zappelte. In dem Video war dann zu sehen, wie die anderen Schildkröten der zappelnden Schildkröte wieder „auf die Flossen“ halfen: mit dem Hashtag #teamwork. Neben den Tierexperten, die lange kommentierten, dass Schildkröten keine Empathie haben (wieder was gelernt), fanden sehr viele Menschen diesen leicht konsumierbaren Content gut, weil die Botschaft so einfach war, so visuell und eben nicht gestellt, sondern Natur. Und genau darum geht es – auch!

Dennoch sitze ich manchmal selbst kopfschüttelnd vor LinkedIn und scrolle durch so manche Postings, die auf dem Niveau eines Erstsemesters in der BWL-Vorlesung sind. Bei Nicht-BWLern (wie z.B. Ärzten) drücke ich noch eher ein Auge zu, für die ist wirtschaftliches Basiswissen eben neu. Wenn jemand schreibt: „Führungskräfte müssen Vorbilder sein!“ und sich dann die Kommentare häufen: „Heureka! Danke, endlich sagt das mal jemand!“ oder der x-te Post zu „Generation Z ist nicht faul“ und dann die ganzen Gen Y-Z-Alpha-Coaches loslegen. Ein weiteres Evergreen post Corona: „Im Homeoffice arbeitet man eher mehr als weniger...“. Es kann durchaus Sinn machen, auch solche Binsenweisheiten, Küchenpsychologie und Kalendersprüche zu posten! Und zwar dann, wenn das die eigene Strategie ist: Ich wähle ein Thema, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Möglichst einfach, weil keiner mehr Zeit hat. Jeder kann dann schon loslegen, wenn er nur ein Buzzword hört, mehr braucht man gar nicht: Teamwork, Führungskräfte oder Homeoffice. Eigentlich ist es auch egal, was man selbst schreibt, denn es wird einfach kommentiert und auf „posten“ gedrückt und weiter gescrollt. Das erinnert mich ein wenig an eine Szene, als ich im Sommer mit Freunden am Santa Monica Pier in Los Angeles spazieren ging und eine Möwe im Sturzflug über meinem Kopf ihre weiße, zähflüssige Harnsäure auf meine Haare absetzte und dann unbeeindruckt weiter flog. So ähnlich geht es mir, wenn die "Trigger-Gringos", um mit Gunter Dueck zu sprechen, loslegen.

Ein anderes Beispiel: Es schreibt jemand so etwas wie "Big Pharma verdient zu viel!". Dann findet sich schnell jemand, der loswerden will: „Tierversuche sind schlecht!“ Und so gibt es auf flache Postings ebenso flache Kommentare. Jedem das Seine mit den Followern, die er verdient. Allerdings bringt es weder dem einen noch dem anderen, wenn man absolut aneinander vorbeiredet.

Es gibt aber auch Startups, die aus jeder noch so kleinen Büropflanze eine ganz persönliche emotionale Story machen und auch, warum sie gestern wieder gescheitert sind und warum es sich heute so verdammt gut anfühlt, weil sie so viel gelernt haben und eine so extreme Fehlerkultur leben - wow, I feel you! In vielen Fällen ist es die sogenannte „Salamitaktik“, bei der jeder inkrementelle Mikrofortschritt des Unternehmens gefeiert und zur Story gemacht wird. Schließlich geht es auch darum, Umsatz und besser noch Gewinn zu generieren. Unsexy kapitalistische Themen, aber ohne die geht es nicht - neben allem Purpose. Und irgendwann wird es ganz ruhig oder es kommt eben jedes Jahr eine neue Story, aber vorher noch ein weinendes Gesicht mit den Learnings, warum man zum Glück gescheitert ist. Das ist übrigens auch die Taktik, die Wissenschaftler anwenden, um aus einem mehrere Publikationen (Paper) zu machen und mehrfach zu Konferenzen zu fahren - habe ich auch gemacht, als ich promoviert habe und in der Zeit als Postdoc. Irgendwie musste man ja auch mit einem geringen Gehalt etwas von der Welt sehen können. Aber irgendwann ist es wichtig, das Paper fertig zu haben und durch den Peer-Review-Prozess zu kommen.

Und dann gibt es auf der anderen Seite diejenigen, die nur etwas für Feinschmecker machen, extrem gut recherchiert, ein komplexes Thema durchdringen. Ich meine, es gibt auch so etwas wie Wissenschaftsjournalismus. Den haben wir auch an der Hochschule. Wo es darum geht, komplexe wissenschaftliche Konzepte und Erkenntnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ohne dabei die Genauigkeit und den wissenschaftlichen Kontext zu vernachlässigen. Ich glaube, nach dem letzten Satz hast du schon fast abgeschaltet, aber es lohnt sich weiterzulesen. Denn genau hier liegt der Hase im Pfeffer (sorry Tierschützer, nicht aufregen, ist nur eine Redewendung). Ist LinkedIn dafür überhaupt geeignet? Das ist ja neuerdings auch vom Gesetzgeber als soziales Netzwerk eingestuft worden. Ja, was denn sonst. XING wiederum ist jetzt durch die „neue Strategie“ kein soziales Netzwerk mehr, sondern ein Jobportal, wie mir eine XING-Mitarbeiterin in mehreren Mails erklärt hat. Wie dem auch sei, eignen sich solche beruflichen sozialen Netzwerke für einen Deep Dive in irgendeine Branche: Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik? Oder geht es nur noch um Personal Branding, Selfies und Storytelling mit ein paar süßen Tiergeschichten am Rande? Ich sage: Ja, mit Einschränkungen. Nicht umsonst empfehle ich meinen Studierenden LinkedIn auch für die Literatur- und Expertenrecherche. Aber es kommt - wie immer - auf den Absender an. Wie im richtigen Leben. Aber oft gilt auch:

Es ist nicht wichtig, was gesagt wird, sondern von wem.

Wenn ich bei vielen beliebt bin, kann ich auch mit Binsenweisheiten punkten und bekomme viel Lob und Dank dafür, dass ich Themen aufwärme, die schon x-mal behandelt wurden. Umgekehrt, wenn ich unbeliebt bin, kann der Inhalt noch so brillant sein, niemand zuckt mit der Wimper. Sympathie first, Inhalt second. Auch an dieser Stelle: These! Und ich kenne auch Accounts, die sich genau überlegen, wem sie folgen. Und das sehr genau. Darüber hinaus gibt es wiederum welche, die jeden Kontakt genau prüfen und nur, wenn sie ihn persönlich kennen, auch die Kontaktanfrage annehmen und auch regelmäßig Kontakte „entfernen“. Oder zumindest stummschalten, wenn sie sich das nicht trauen. Auch das kann man tun, um sich vor zu viel Flachsinn zu schützen. Und dann gibt es tatsächlich noch die, die diesen Text hier nie lesen werden. Leider! Es gibt auch viele Thought Leader, die sich auf LinkedIn nicht als Thought Leader bezeichnen, weil sie gar nicht auf dieser oder anderen Plattformen sind, und das ganz bewusst nicht. Weil sie das Spiel von News und Personal Branding nicht mitspielen wollen. Und es gibt eben komplexe Themen, da braucht es Zeit, um sie zu „durchdringen“ und trotz krassem Mindset, das reicht eben nicht, sondern es müssen ein paar Jahre Erfahrung in einem Bereich sein. In der Wissenschaft ist es noch schwieriger.

In der Wissenschaft gibt es kein richtig oder falsch. Etwas ist bewiesen, bis es widerlegt wird. Und das muss man als Leser aushalten können. Das erzeugt Stress! Ja, Stress! Geistig nicht gut, also wenn ich mich erst gar nicht damit beschäftige, vermeide ich unnötigen Stress. Dann lieber People Watching: Wer war mit wem wo bei welchem krassen Event. „Moment mal: Ist das da hinten auf dem Foto nicht die Maya aus der Personalabteilung, die verdächtig nahe bei Bernd aus dem Controlling steht?“

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Prof. Dr. David Matusiewicz
Advisory Board, 10xD