Die stille Schaltzentrale der Gesundheit

Jeder spricht über Resilienz. Aber kaum jemand über das, was ihr wirklich vorausgeht: die Fähigkeit, das eigene Nervensystem bewusst zu regulieren. Die Wissenschaft nennt das Autoregulation – und meint damit die Kunst, flexibel zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln. „Wenn wir lernen, unser Nervensystem selbst zu beruhigen, wächst unsere innere Stärke mit jedem Tag.“

Immer mehr Stimmen aus der Longevity-Szene, wie etwa US-Unternehmer und Gesundheitsvisionär Bryan Johnson, rücken einen seit lange bewährten, jedoch fast vergessenen Gesundheitsmarker in den Fokus: die Herzratenvariabilität (HRV). Für sie ist ein reguliertes Nervensystem nicht nur ein Zeichen von Balance – sondern die Grundlage für mentale Klarheit, emotionale Stabilität und Langlebigkeit. Dabei geht es nicht um Selbstoptimierung um jeden Preis, sondern um etwas Tieferes: „Wir trainieren die Fähigkeit, in einer überreizten Welt innerlich ruhig, klar und widerstandsfähig zu bleiben.“

HRV – der neue (alte) Puls der Prävention

Unser autonomes Nervensystem reguliert unbewusst Herz, Atmung, Verdauung und Hormone und besteht aus Sympathikus (Aktivierung) und Parasympathikus (Erholung). Es kann wie ein innerer Schalter gesehen werden: Der Sympathikus bringt uns in Aktion, der Parasympathikus sorgt für Ruhe, Verdauung und Heilung. Beide Anteile brauchen Balance – sonst gerät unser gesamtes System aus dem Takt. In einer Welt voller Leistungsdruck, Reizüberflutung und digitaler Dauerverfügbarkeit befindet sich unser Körper jedoch häufig im Dauerstressmodus. Unser Stresshormon Cortisol steigt, der Puls bleibt hoch, Schlaf fehlt – und irgendwann wird das spürbar: an der Haut, im Magen, am Herzen. Ein überlastetes Nervensystem zeigt sich nicht nur im Gefühl. Es ist messbar: Die Herzratenvariabilität (HRV) – also die feine Schwankung zwischen Herzschlägen – ist ein Schlüsselindikator. Studien zeigen: je variabler, desto besser die vagale Regulation, also die Fähigkeit den Körper spürbar in den Erholungsmodus zu bringen (Thayer & Lane, 2009). Menschen mit hoher HRV haben ein signifikant geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, schlafen besser, denken klarer – und bleiben psychisch stabiler in herausfordernden Zeiten.

Der Takt des Herzens verrät, wie es uns wirklich geht

Auch der Herzrhythmus selbst kann ein stiller Hinweis auf innere Dysbalance sein. Extrasystolen– also zusätzliche, vorzeitige Herzschläge – gelten medizinisch oft als harmlos. Doch in der Forschung mehren sich Hinweise: Bei gehäuftem Auftreten könnten sie ein Zeichen für ein überreiztes Nervensystem sein. Menschen mit vielen ventrikulären oder supraventrikulären Extrasystolen zeigen häufig eine verringerte HRV. Chronischer Stress, emotionale Erschöpfung oder fehlende Regenerationsphasen können am Herzen ablesbar sein – lange bevor es krank wird. 

„Prävention muss beginnen, bevor das Herz stolpert.“

Dopamin, Grundbedürfnisse & emotionale Selbststeuerung

Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe beschreibt in seiner Konsistenztheorie, dass wir dann stabil sind, wenn unsere Grundbedürfnisse erfüllt sind – etwa nach Bindung, Kontrolle, Selbstwertschutz und Lustgewinn. Wenn diese dauerhaft frustriert werden, bleibt unser Nervensystem in Alarmbereitschaft. Die Folge: innere Unruhe, Cortisolanstieg – und eine sinkende HRV. Zugleich spielt ein weiterer Botenstoff eine zentrale Rolle: Dopamin. Es wird oft als Glückshormon bezeichnet, ist aber in Wahrheit unser Motivationsmotor – es treibt uns an, Ziele zu verfolgen. In gesunder Dosis fördert es Resilienz. Doch moderne Lebensgewohnheiten – von Social Media bis Multitasking – erzeugen ständige, intensive Dopamin-Schübe ohne echte Bedürfnisbefriedigung. Das Belohnungssystem verlernt, sich selbst zu regulieren.

„Nicht das Dopamin ist das Problem – sondern die Qualität der Reize.“

Die gute Nachricht: Das Gehirn ist formbar. Durch neuroplastische Prozesse können wir lernen, wieder auf tiefe, nachhaltige Reize zu reagieren. Natur, soziale Bindung, Atem, Kreativität – all das stärkt nicht nur das emotionale Gleichgewicht, sondern auch die HRV.

Was beeinflusst nun unsere HRV – Autoregulation oder Resilienz?
Beides spielt eine Rolle – aber auf unterschiedliche Weise: Autoregulation wirkt unmittelbar. Atemtechniken, Achtsamkeit oder Klopftechniken aktivieren direkt den Vagusnerv. Schon eine einzige bewusste Atemsequenz kann die HRV positiv beeinflussen. Resilienz hingegen entsteht über Zeit. Wer wiederholt mit innerer Flexibilität auf Stress reagiert, entwickelt eine Grundstabilität, die das System auch langfristig schützt – selbst in belastenden Lebensphasen.

„Autoregulation ist der direkte Hebel – Resilienz der langfristige Schutz.“

Wer beides trainiert, schützt nicht nur sein Nervensystem – sondern auch sein Herz.

Fazit: Autoregulation ist keine Option – sie ist Voraussetzung

Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Sie beginnt dort, wo wir lernen, mit innerer Flexibilität auf äußere Anforderungen zu reagieren – physiologisch, psychisch und sozial. Das Erlernen von Autoregulation ist der erste Schritt in Richtung echter Resilienz. Atemtechniken, Schlafhygiene, vagusaktivierende Übungen und bewusste Dopaminreize sind keine Wellness-Trends, sondern praktische Werkzeuge, mit denen wir unserem Körper helfen, wieder in Balance zu kommen.

„Autoregulation ist kein Luxus – sie ist der Schlüssel zu wahrer Prävention und Langlebigkeit.“ Und sie lässt sich trainieren. Jeden Tag.

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Dr. Nesrin Usta
Fachärztin für Kardiologie und Innere Medizin Präventivmedizin, Funktionelle Medizin und Sportmedizin