Glitzer mit Klebstoff oder was hat Kunst mit Spitzenmedizin zu tun – Eine Betrachtung über die „Kunst zu leben“
"Die Kunst zu leben“ ist ein Konzept, das auf die Fähigkeit verweist, das Leben in all seinen Facetten bewusst und erfüllend zu gestalten. Es geht darum, nicht nur zu existieren, sondern aktiv und mit Sinn zu leben. In philosophischen und literarischen Kontexten wird dieser Ausdruck häufig verwendet, um die Suche nach einem ausgewogenen Leben zu beschreiben, das sowohl in den persönlichen als auch in den zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Dimensionen erfüllt ist. Die Kunst zu leben kann viele Formen annehmen, von der Pflege von Beziehungen und der Verwirklichung persönlicher Ziele bis hin zur Akzeptanz von Veränderungen und der Entfaltung des eigenen Potenzials. Sie beinhaltet auch das Streben nach innerer Harmonie und das Finden von Freude im Alltäglichen. Diese Kunst umfasst nicht nur die äußeren Bedingungen des Lebens, wie Erfolg, Wohlstand und Beziehungen, sondern auch die innere Haltung und die Fähigkeit, das Leben mit Achtsamkeit, Resilienz und Freude zu leben.Bei dieser Freude im Alltäglichen gilt es genauer hinzuschauen wenn wir uns diesbezüglich dem Gesundheitswesen zuwenden. Die Medizin entwickelt sich in großen Schritten zur Digitalisierung und künstlichen Intelligenz in der Krankenhausversorgung um den Menschen bestmöglich zu behandeln. Das ist ein riesen Fortschritt. Gleichzeitig sind wir besonders in extremen Lebenssituationen darauf angewiesen, dass wir wirklich gesehen und wahrgenommen werden. Als ganzer Mensch, mit allen Sorgen und Bedürfnissen und Sehnsüchten. Menschlichkeit impliziert die positive Einstellung gegenüber den Mitmenschen und zeigt sich unter anderem in Empathie, Rücksicht, Achtsamkeit und Respekt. Besonders in Bezug auf die Genesung spielt die Menschlichkeit eine zentrale Rolle. Hier möchte ich den Satz „die Kunst zu leben“ abwandeln in „die Kunst im Leben“ und diesen Satz somit in die Lebensrealität von schwer kranken Menschen übersetzen und aufzeigen, was die Kunst in Form von Kreativität beitragen kann, wenn medizinisch nicht mehr viel Hoffnung bleibt: Kunst im Krankenhaus – Künstlerische Therapien.
Die Künstlerischen Therapien haben sich als eine der wirksamsten Methoden erwiesen, um psychische Belastungen zu lindern und das emotionale Wohlbefinden zu fördern. Durch kreative Ausdrucksformen wie z.B. Malen, Musik und Tanz können Menschen Zugang zu unterbewussten Gedanken und Gefühlen finden und lernen, diese zu verarbeiten, ohne dass Worte erforderlich sind.
Die Kunst kann die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, transformieren. Sie hilft uns, die Realität aus neuen Blickwinkeln zu betrachten und zeigt uns unsere schöpferischen Kräfte und kreativen Ressourcen auf, unsere gesunden Anteile. Das Schaffen oder Erleben von Kunst erfordert volle Aufmerksamkeit im Moment. Diesen Moment nutzten die Künstlerischen Therapien, um dem Menschen einen Zugang zu seinem inneren Erleben zu ermöglichen und ihn in seiner Selbstwirksamkeit zu unterstützen.
Ein Beispiel aus der Kunsttherapie
Intensivstation, Kinderklinik, die 5-jährige Patientin C. kämpft seit Tagen mit schweren Komplikationen. Die Prognose ist schlecht, die Zeit endlich. Ihre Eltern sind an ihrer Seite jedoch die Zwillingsschwester kann nur selten zu Besuch kommen. Die starke Verbindung zu dieser Schwester lässt C. in ihrer letzten Woche auf der Intensivstation drei Bilder malen. Während der Kunsttherapie sprechen wir kaum, es ist still und ruhig, im Hintergrund hört man die medizinischen Geräte piepen. Auf dem ersten Bild, Wasserfarben auf Papier, sind zwei Figuren zu erkennen, sie halten sich an den Händen. Glitzer, vermischt mit Klebstoff (damit es hält) wird in Kreisform um die beiden Figuren gemalt. „Das sind meine Schwester und ich“ sagt die Patientin, sie lächelt und möchte das Bild ihrer Schwester schenken. Das zweite Bild, wieder Wasserfarben. Kreisformen werden von außen nach innen gemalt, immer kleiner werdende Kreise, in der Bildmitte wieder Glitzer und Klebstoff. Dieses Bild schenkt sie wieder ihrer Schwester. Als C. das dritte Bild malt ist sie bereits sehr schwach, aber das Malen lenkt sie ab und zaubert ihr ein Lächeln ins Gesicht. Dieses Mal kommt nur der Klebstoff und ganz viel Glitzer zum Einsatz. Das Blatt wird vollständig mit der klebrigen Glitzermasse bemalt und die junge Patientin ist freudig dabei, diese funkelnde Masse auf dem Papier zu verstreichen. Immer wieder macht sie Pausen und betrachtet das Bild. Als das Bild fertig ist lächelt sie und sagt: „…wie ein Sternenhimmel“. Auch dieses Bild widmet sie ihrer Schwester.
Die Kunst hat in der Palliativmedizin eine tiefgreifende Bedeutung, da sie eine Vielzahl von emotionalen, psychischen und physischen Bedürfnissen adressiert. Sie fördert die Kommunikation nach außen und die Verbindung zu sich selbst, bietet eine Möglichkeit der emotionalen Verarbeitung, lindert Stress und kann Trost spenden.
Diese Momente wie in dem kunsttherapeutischen Beispiel, den Schmerz, Wunsch oder die Träumerei zu verwirklichen und in die Umsetzung zu bringen, unterstützt die Verarbeitung und Autonomie der Betroffenen, ohne dass sie diese Erlebnisse in Worte fassen müssen. Weil es oft dafür keine Worte gibt. So ist es dieser kreative Moment, dieser eine kleine Augenblick, in dem uns die Kunst trägt und uns vergegenwärtigt, dass die Kunst zu Leben genau darin besteht: im Jetzt selbstwirksam handeln zu können, egal wie klein oder groß diese Handlung ist, aber sie ist da.
Karl Valentin (geb.1882), Schauspieler, Autor und Komiker hat einmal gesagt: „Ich freue mich wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch“.
Ich bin davon überzeugt, dass darin die Kunst im Leben besteht, genau das mit allen Sinnen zu erkennen um wirklich im Jetzt sein zu können. Das erlebe ich in meiner täglichen Arbeit mit schwer kranken Kindern und Jugendlichen. Wir haben immer Glitzer und Klebstoff parat.
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