Künstliche Intelligenz verlangt ein Update für unsere Psyche
Internet, Smartphone, ChatGPT, Metaversum oder die Reise zum Mars, wir befinden uns im größten Umbruch der Menschheitsgeschichte. Endlich sind wir immer besser in der Lage, unsere Schwächen mit künstlicher Intelligenz zu kompensieren. Gerade in der Wissenschaft und im Gesundheitswesen profitieren wir in spektakulärer Weise. Durch Deep-Learning-Modelle wurde die Bilderkennung sensationell optimiert. Das gilt genauso für Spracherkennung und Sprachverarbeitung. Die Robotik lässt Operationen zu, wo der Operateur in New Delhi den Patienten in Berlin operiert. KI-Modelle treiben ebenso den Fortschritt in der medizinischen Diagnose und interpretieren Röntgenaufnahmen und MRT-Scans mit grandioser Perfektion. Mit Big Data durchdringen wir in Echtzeit unfassbare Datenmengen, um am Ende schneller, fundierter und vorhersagetauglicher zu entscheiden. Dieses Universum des Wissens, indem wir geistig niemals in der Fülle Zugang und Überblick gefunden hätten, steht uns jetzt ad hoc 24/7 zur Verfügung. Mit Quantencomputern und weiterer exponentieller Beschleunigung, werden Dinge möglich, die wir selbst heute noch nicht zu träumen vermögen. Vor allem selbstlernende Systeme, die nicht mehr von unserer vielfältigen Endlichkeit aufgehalten werden, machen die Zeitenwenden zur Normalität.
Dieser Quantensprung trifft aber auf neuronale, emotionale, kulturelle, gewohnheitsmäßige und gesellschaftliche Bedenkenträgerei, die meist nicht der Vernunft entspringt, sondern serieller Rückwärtsgewandheit. Auf dieses Phänomen, was macht die Künstliche Intelligenz, die Robotik und das Metaversum mit unserer Psyche, unserem Geist und unseren Emotionen schauen wir seit acht Jahren in unserem Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Diese zukunftspsychologischen und zukunftsnavigatorischen Fragen stellen wir seit 2022 auch in der opta data Zukunfts-Stiftung. Hier allerdings mit dem besonderen Fokus auf das Gesundheitswesen und die Gesundheitsfachberufe.
Die bisherigen Erkenntnisse in beiden Institutionen dokumentieren ein spezifisches psychologisches und soziologisches Dilemma unentwegt: wir erkennen Probleme rechtzeitig, verdrängen, zerbröseln und verschieben sie dann interessenbedingt in alle Richtungen, um am Ende zu spät und mit großem Schaden reaktiv zu handeln. Die Belegliste ist immens lang. Assoziieren wir nur zum Beispiel den seit 50 Jahren präsenten demografischen Wandel, den ebenso lang drohenden ökologische Kollaps, die verschlafene Digitalisierung, die angekündigte Pandemie, das rückständige Gesundheitswesen und die zähflüssige Modernisierung von Krankenhäusern. Proaktivität und Zukunftselan sind in Deutschland verehrungswürdige Ausnahmen. Es bedarf jetzt ultimativ einer Wendezeit für Psyche und Verhalten. Schauen wir auf die spektakuläre Verfahrensweise mit ChatGPT in den letzten Monaten. Einerseits wurde es als informative Erleuchtung sondergleichen dargestellt, anderseits als böses Werkzeug der Entmündigung. Dazwischen gab es die unterschiedlichsten Einschätzungen aus berufenen und belanglosen Mündern. Wer mit ChatGPT arbeitet, merkt schnell, dass es neben Kinderkrankheiten eine blitzschnelle Wissensverarbeitung bietet, die Menschen und auch das Googeln nicht zu leisten vermögen. Und wir sind erst am Anfang, die Kapazität wächst sprunghaft. Die Antizipation dieser Möglichkeiten ist eine wichtige Aufgabe für unsere Zukunftsgestaltung. Stattdessen erschöpfen sich die meisten Beiträge in einem individuellen Bedenkenwettbewerb oder sibyllinischen Ratschlägen, intelligent abzuwarten.
Ein zweites Paradebeispiel für diese Zukunftsaversion ist der Umgang mit der Telematikinfrastruktur. Seit dem Jahre 2002 wird diese systemische und digitale Datentransparenzherstellung im Gesundheitswesen diskutiert und sukzessive zur Etablierung aufgearbeitet. Jetzt ist sie Gesetz. Und dennoch gibt es endlosen Gegenwind, vor allem aber Ignoranz, Interessenlosigkeit und die Sehnsucht, der Kelch des Neuen möge doch vorbeiziehen. Wir erkennen das Muster: früh erkannt, lange verdrängt, zu spät gehandelt. Diese Prokrastination ist keine Faulheit oder Dummheit, sondern eine neuronale und psychologische Barriere. Der Mensch ändert sich nicht gerne, obwohl sich alles ständig ändert. Aber der Geist ist zuweilen träge und heutzutage ohnehin mit allzu vielen Lasten überfordert.
Aber selbst eine 5G Technologie ist nicht erfolgreich nutzbar, wenn es nicht auch ein 5G Bewusstsein dazu gibt. Das gleiche gilt noch viel stärker und fundamentaler in Bezug auf die Nutzung der Künstlichen Intelligenz. Diesbezüglich brauchen wir schleunigst ein geistiges Update. Es geht um das Lernen, Trainieren und Erzeugen von Souveränität im Umgang mit Krisen, mit Zukunft, mit Unvorhersehbarkeit, mit Exponentialität, mit Unsicherheit und ständiger Veränderung. In diesem Sinne ist Neugier ein wunderbarer Beschleuniger, aber kontinuierliche Skepsis ein Rohrkrepierer.
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