Faktor Mensch im Gesundheitsrecht
Mit dem Faktor Mensch werden im Kontext des Gesundheitswesens und dem Streben nach seiner Verbesserung Personen assoziiert, die sich für Veränderung, Innovation und Transformation einsetzen, die Visionen haben und „out of the box“ denken – aber tatsächlich im seltensten Fall die Rechtswissenschaft ihre Profession nennen. Gerade mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen und vieldiskutierten Themen Digitalisierung und Gesundheitsdatennutzung ist zu konstatieren, dass sich der notwendige Wandel nicht in dem Tempo vollzieht, das vielleicht wünschenswert wäre, sondern zumindest partiell eine gewisse Trägheit oder Passivität vorherrscht. Nicht selten sind es dabei auch die Juristinnen und Juristen, die mahnen, nichts zu überstürzen und lieber Entwicklungen abwarten, anstatt Prozesse proaktiv zu begleiten, und sich Neuem gegenüber auch gerne erst einmal skeptisch zeigen. Korrelierend damit sind Wagemut, Neugierde, Innovationsoffenheit und Veränderungswilligkeit keine Eigenschaften, die klassischerweise dieser Berufsgruppe zugesprochen werden – gleichwohl sind sie es, die es bei der Transformation des Gesundheitswesens braucht.
Juristinnen und Juristen damit pauschal als Teil des Problems anzusehen, greift allerdings zu kurz. Ein solches Resümee verkennt, dass es auch in diesem Fall auf den Faktor Mensch ankommt und stereotypische Betrachtungen oder gar Vorurteile den Diskurs und vor allem auch die notwendige Zusammenarbeit unnötig erschweren. Aus eigener Erfahrung muss ich sagen, dass speziell die Beziehung und Verständigung zwischen Personen mit medizinischem und juristischem Hintergrund nicht immer einfach ist, sondern manchmal gar der von Katz und Hund gleicht. Anekdotische Evidenz bietet meine langjährige und enge Freundschaft zu einer Neurologin: Gerade wenn wir über das Gesundheitswesen insgesamt, über bestimmte Behandlungsmethoden oder Verfahren und Vorgaben sprechen, offenbaren sich häufig völlig unterschiedliche Positionen und Wahrnehmungen, und bisweilen kann sie eine gewisse Antipathie gegen die juristische Perspektive nicht gänzlich vor mir verbergen.
Ihr und vielen anderen praktizierenden oder forschenden Medizinerinnen und Medizinern erscheinen schlichtweg nicht alle rechtlichen Regularien nachvollziehbar oder sinnvoll. Erschwerend hinzu kommt, dass hin und wieder der Eindruck entsteht, Juristinnen und Juristen würden Sachverhalte aus dem „Elfenbeinturm“ heraus regeln und bewerten, ohne eine Vorstellung von der Praxis, etwa dem Versorgungsalltag in einem Krankenhaus, zu haben. Aus dieser Gemengelage heraus entstehen Konflikte, die in den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens denkbar und auch üblich sind: Zum Beispiel im Zusammenhang mit klinischen Studien, bei denen die juristischen Mitglieder der Ethik-Kommission Bedenken haben, oder im Zusammenhang mit Bestrebungen, in bestimmten Bereichen von einer Einwilligungs- auf eine Widerspruchslösung umzusteigen, oder im Zusammenhang mit Situationen, in denen allgemeingültige Aussagen und verbindliche Handlungsleitfäden die Arbeit von Forschenden erleichtern würden, Juristinnen und Juristen aber nur mit „Es kommt darauf an“ antworten können. Professionsbedingt nehmen sie in gewisser Weise die Rolle der Spielverderber ein, zumindest dann, wenn sie auf Grenzen der Zulässigkeit, Haftungsrisiken oder notwendige Begleitmaßnahmen hinweisen.
Gleichwohl werden sie dabei häufig missverstanden: Geltende Regelungen auszulegen und anzuwenden, schließt nicht aus, sie persönlich für reformbedürftig zu halten, und die Wahl des Studiums bzw. Berufsbildes ist durchaus vereinbar mit einem offenen Mindset, einer Hands-On-Mentalität und dem Willen, gemeinsam und in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen praktikable Strategien für eine verbesserte Versorgung und Lösungen für bestehende Probleme zu erarbeiten. Frau Prof. Jorzig selbst ist das beste Beispiel dafür, und auch ich bin bei meiner bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeit immer bemüht gewesen, mir die „Realität“, die den jeweiligen juristischen Untersuchungen zugrunde lag, von den Personen zeigen zu lassen, die tagtäglich mit ihr arbeiten, und mich mit ihnen auszutauschen. So habe ich mir beispielsweise gemeinsam mit Hirnforschern „Hirnorganoide“ – künstliche Hirnmodelle, deren (zukünftiger) rechtlicher Status Fragen aufwirft – im Labor unter dem Mikroskop angeschaut und zuletzt im Rahmen des „Disease Interception“-Projekts mit den KI-Expertinnen und -Experten der Universitätsmedizin Essen anhand echter Use Cases über regulatorische Probleme diskutiert.
Es bedarf eines interdisziplinären Ansatzes, damit in den Forschungsergebnissen frühzeitig alle relevanten Perspektiven (z.B. die Medizin, Medizinethik, Philosophie, Gesundheitsökonomie bzw. -politik oder Medizinische Soziologie) zum Tragen kommen können und die entsprechend breit angelegten Forschungsergebnisse eine optimale wissenschaftliche Grundlage für den Praxistransfer bieten. Dafür muss auch mal die Komfortzone verlassen werden und die Bereitschaft bestehen, die eigene Fachgrenze nicht als Ende der persönlichen Zuständigkeit, sondern als einen Ort der Begegnung mit anderen Professionen zu begreifen.
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