Human Shift an der Schnittstelle Medizin und Fitness
In allen europäischen Ländern gibt es eine nachgewiesene Ungleichheit in den Gesundheitschancen, die durch soziale Faktoren bedingt ist. Auch in Deutschland besteht ein Zusammenhang zwischen der sozialen Situation einer Person und dem Risiko, an einer Krankheit zu erkranken oder frühzeitig zu sterben. Die Herstellung gleicher Chancen unabhängig von beispielsweise sozialem Status, nationaler Zugehörigkeit, Generation, Alter und Geschlecht scheint in Deutschland aktuell jedoch hauptsächlich auf die Gleichstellung der Geschlechter fokussiert zu sein. Der viel diskutierte Gender Gap hat sich in den letzten Jahren vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit verringert, so der aktuelle Bericht des Weltwirtschaftsforums. Der Global Gender Gap Report analysiert seit sieben Jahren die weltweite Gleichstellung der Geschlechter. Dabei werden Faktoren wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, politischer Teilhabe und wirtschaftlicher Gleichstellung betrachtet. Auch in Entwicklungsländern haben Frauen heute gleichberechtigten Zugang zu Bildung und sind erwerbstätig.
Die Quotenregelungen, Gendern oder Gender Gap - alles Themen die oft hoch emotional besetzt sind. Da die Feminisierung der Gesellschaft nicht nur durch einen soziokulturellen Wertewandel vorangetrieben wird, sondern vor allem auch durch wirtschaftliche Veränderungen und Neuausrichtungen, bleiben Aspekte wie sozialer Status, nationale Zugehörigkeit, Generation oder Alter leider im Moment noch wenig diskutiert.
Ich selbst arbeite als Expertin für Neurozentriertes Training an der Schnittstelle von Medizin und Fitness, beides traditionelle Männerdomänen. Speziell im Fitnessbereich zudem mit stark ausgeprägten Geschlechterstereotypen: der durchtrainierte, muskulöse Mann, die flexible Yoga- oder Pilates-treibende Frau. Auch die Veranstaltungen und Panels sind oft noch sehr wenig divers. Doch statt Ärger oder Anpassung sehe ich viel Potenzial. Und auch wenn der Wandel vor allem durch wirtschaftliche Strukturkrisen und die Erschließung ungenutzter weiblicher Arbeitskräftepotenziale im Zuge der Alterung der Bevölkerung vorangetrieben wird und weniger durch einen freiwilligen Wertewandel, können gerade Frauen diesen Wandel für sich nutzen.
Denn wenn wir dann noch selbst anfangen, weniger gegen und mehr für etwas zu sein, eröffnen sich plötzlich neue Perspektiven. Für mich persönlich bedeutet das: Individuelle Inhalte gestalten, innovative Ansätze verfolgen und die eigene Meinung und Perspektive stark vertreten und sichtbar machen. Statt auf den Likability-Effekt zu setzen, also gemocht zu werden, lieber neugierig und mutig für die eigenen Themen einstehen, auch auf die Gefahr hin anzuecken und zu polarisieren. Meine persönliche Erfahrung: Wer ehrliches Interesse zeigt, dem öffnen sich Türen. Und daraus ergeben sich neue Kontakte, ein verzweigtes Netzwerk und neue Geschäftsmöglichkeiten. Und der "Womanomics"-Trend, der den wachsenden Einfluss von Frauen in einem sich verändernden Wirtschaftssystem beschreibt, ist im Aufwind und wird auch die anderen Bereiche mehr einbinden.
Diesen Schwung gilt es nun aufzugreifen und auszubauen, denn gerade an der Schnittstelle von Medizin und Fitness liegen die Chancen, eine vielfältige und gleichberechtigte Gesellschaft mitzugestalten. Denn es geht immer auch um individuelle Geschichten und Vorbilder, die Mut und Neugier wecken, Dinge anders zu machen. Es gibt immer weniger ein Schema F, das zum Erfolg führt. Sichtbarkeit wird zu einer neuen Währung, die für Vielfalt steht: Mediziner:innen gründen Start-ups, um den aktuellen Status Quo zu verbessern, Co-Creation schließt Lücken bisheriger Angebotsdefizite, technischer Fortschritt erlaubt Personalisierung bei gleichzeitiger Standardisierung hochkomplexer Prozesse.
Wir leben in einem sich wandelnden Umfeld, das noch viel mehr Vielfalt braucht, sei es in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Alter, soziale Schicht oder Branche. Ich persönlich bin dankbar, dass ich diese Zeit erleben und aktiv mitgestalten darf. Denn oft werde auch ich zu Panels und Veranstaltungen eingeladen, weil ich eine junge, ambitionierte Frau bin und man diese Vielfalt widerspiegeln möchte. Statt mich darüber zu beschweren, nehme ich es dankbar an und spreche weiter über meine Vision, die Lücke zwischen Medizin und Fitness zu schließen. Nicht obwohl oder weil ich eine Frau bin, sondern weil ich etwas zu sagen habe und die Leute es hören wollen.
Und vielleicht sind wir irgendwann so weit, dass all die persönlichen Komponenten keine Rolle mehr spielen und man sich unabhängig vom Outfit, mit oder ohne weiße Turnschuhe, an einen Tisch setzt - weil es einfach so sein sollte, abwechslungsreich, mit Fokus auf Inhalte und nicht auf Oberflächlichkeiten.
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