Der diametrale Gegensatz

Vor einigen Wochen haben wir uns mit Expertinnen und Experten zu einem 10xD-Workshop auf Sylt getroffen. Es ging dabei auch, ich darf das so sagen, um das elitäre Thema Langlebigkeit oder moderner ausgedrückt „Longevity“. Elitär, weil es vor allem aktive, gut gebildete Menschen anspricht. Menschen, deren Kraft nicht dadurch erschöpft wird, dass sie als Geringverdiener eine Familie durchbringen müssen. Menschen, die genug Zeit und Geld haben, Longevity durch den Besuch eines Fitnessstudios oder die Einnahme von Präparaten bis hin zum teuren Besuch einer Fastenklinik zu unterstützen. Menschen, die - nicht alle, aber in der Mehrzahl – eben ausreichend Ressourcen haben, sich in jedweder Form mit dem Thema Longevity zu beschäftigen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich halte Longevity, gerade wenn man den Begriff nicht als das freudlose Herauspressen von weiteren Lebensjahren, sondern eher als Schlüssel für ein erfülltes, körperlich und mental gesundes Leben versteht, für essenziell. Und dies auch und gerade im Hinblick auf breite Bevölkerungsschichten und die damit verbundene, gleichsam automatische Entlastung des Gesundheitssystems durch mehr Prävention und Eigenverantwortung. Aber es hat, aus welchen Gründen auch immer, die Gesellschaft noch nicht durchdrungen. Nur wenige Tage nach unserem Workshop las ich einem sehr deprimierenden Artikel über die dramatisch gestiegenen Kosten in Pflegeheimen. Zwischen 2.700 und 3.500 Euro monatlich kostet, je nach Bundesland, der Eigenanteil für die Unterbringung in einem Pflegeheim. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Rente beträgt in Deutschland rund 1.200 Euro, es bleibt also ein Delta von 2.000 Euro, das entweder vom Vermögen des Heimbewohners oder von den Angehörigen – die häufig selbst eine Familie mit Kindern haben, ein Häuschen abbezahlen etc. – übernommen werden müssen, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Viele Menschen sind mit die- ser finanziellen Belastung am Ende eines arbeitsreichen Lebens überfordert, vollkommen überfordert und so sind die Sozialhilfe-Ausgaben für Pflegebedürftige allein 2022 um 27 Prozent nach oben geschnellt. Es tat weh, diesen Artikel zu lesen und sich die Situation alter Menschen vorzustellen, die häufig erstmals in ihrem Leben zum Bittsteller werden. Und es wäre – mal wieder – einen eigenen Artikel wert, über den teils skandalösen Umgang mit alten Menschen zu schreiben. Aber ich möchte heute einen anderen Gedanken formulieren. Denn wenn man zynisch ist, könnte man sagen: Die Menschen wollen möglichst gesund alt werden, haben aber kein Geld, dies auch zu bezahlen, zumindest wenn man pflegebedürftig ist. Wir müssen daher beim Thema Longevity aufpassen, dass sich keine Geisterdiskussion entwickelt, dass sich der völlig richtige Ansatz von Achtsamkeit mit sich selbst, von Prävention und gesundem Leben nicht von der gesellschaftlichen Realität entkoppelt. Der Grad, auf dem wir diesbezüglich wandern, ist sehr schmal. Wir brauchen daher nicht mehr und nicht weniger als die De-Elitisierung, wir brauchen die Popularisierung von Longevity als große Volksbewegung. Ob der anglizistische Begriff, der zweifellos Distanz zur Lebensrealität vieler Menschen schafft, dafür geeignet ist, sei einmal dahingestellt, aber er lässt sich wohl nicht mehr verändern. Umso wichtiger ist die Besetzung des Begriffs mit der tatsächlichen Zielprojektion, nämlich dass Longevity nicht erst im Alter beginnt, sondern vielmehr prinzipielle Lebenseinstellung ist. Dies zu erreichen ist gleichermaßen Bildungsaufgabe wie Auftrag an die Menschen, die sich professionell mit Gesundheit beschäftigen, von den Ärzten über Krankenversicherungen bis hin zu Meinungsbildnern. Wir alle haben die Verpflichtung, den Kern von Longevity nicht nur in elitären Zirkeln zu diskutieren, sondern eben auch den normalen Menschen näher zu bringen. Ich bin davon überzeugt: Wenn dies gelingt, wird die mit Longevity verbundene individuelle Lebensphilosophie in der Summe von über 80 Millionen Menschen auch signifikant dazu beitragen, strukturelle Probleme im Gesundheitssystem zu lösen – vielleicht sogar bis in die Pflege und die Altenheime hinein, weil alte Menschen länger selbstständig leben können und erst später auf Hilfe von außen angewiesen sind.

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Prof. Dr. Jochen A. Werner