Digitale Gesundheitskompetenz in der GKV

Das E-Rezept einlösen, eine Videosprechstunde mit dem Hausarzt durchführen, die elektronische Patientenakte einrichten, einen umsichtigen Umgang mit den eigenen Gesundheitsdaten pflegen, digital verfügbare Gesundheitsinformationen nutzen oder die Übungen gegen Rückenschmerzen via App absolvieren: die Möglichkeiten, die digitale Gesundheitsangebote für Patienten mit sich bringen, sind schier endlos. Dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen außerdem wichtig ist, weil sie weitreichende Potentiale zur Effizienzsteigerung bereithält, ist unbestritten. Der demografische Wandel, der Fachkräftemangel oder auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie stellen das System vor eine Vielzahl an Herausforderungen. Für die Patienten bedeutet die Digitalisierung im Gesundheitswesen aber auch, dass sie neue Kompetenzen einbringen müssen, um selbstbestimmte Entscheidungen zu ihrer eigenen Gesundheit treffen zu können. Die Kombination dieser benötigten Fähigkeiten wird zusammengeführt ver- standen als „digitale Gesundheitskompetenz“ (dGK). Das bekannteste Modell zur dGK wurde bereits 2006 von Norman und Skinner vorgestellt. Sie beschreiben dGK originär als „Fähigkeit zum Suchen, Finden, Verstehen und Bewerten von Gesundheitsinformationen auf der Grundlage digitaler Quellen und das gewonnene Wissen so anzuwenden, um gesundheitliche Herausforderungen zu adressieren und Probleme zu lösen“. Sie kombinieren sechs relevante Kernkompetenzen, aus denen sich die digitale Gesundheitskompetenz zusammensetzt: allgemeine Kompetenzen (z. B. die Lesefähigkeit oder das Textverständnis), Gesundheitskompetenz, Informationskompetenz, Wissenschaftskompetenz, Medienkompetenz und Computerkompetenz. Über die Jahre wurde das Konzept weiterentwickelt und erweitert, sodass heute unterschiedliche Schattierungen digitaler Gesundheitskompetenz existieren. Neuere Definitionen wie die von Samerski/ Müller erweitern das Konzept beispielsweise noch um die Zielsetzung der selbstbestimmten Nutzung digitaler Technologien im Hinblick auf die eigene Gesundheit. Darüber hinaus schließen sie die Interaktion zwischen individuellen Fähigkeiten und soziotechnologischen Rahmenbedingungen als Einflussfaktoren auf die digitale Gesundheitskompetenz ein. Eine hohe dGK der Bevölkerung sollte heutzutage als Schlüsselkompetenz und auch als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche digitale Transformation im Gesundheitswesen gesehen werden. Aktuelle Ergebnisse zeigen jedoch, dass die dGK der deutschen Bevölkerung verbesserungswürdig ist. So fand der HLS-GER 2 beispielsweise heraus, dass knapp drei Viertel der Bevölkerung eine schwach ausgeprägte dGK und enorme Probleme im Umgang mit digitalen Gesundheitsinfor- mationen aufweisen. Weitere Studien zeigen zudem, dass die dGK in verschiedenen Zielgruppen variiert und besonders bei Menschen mit vielen Kontaktpunkten zum Gesund- heitswesen, wie chronisch Kranken, schwach ausgeprägt ist.

Bislang sind nur die gesetzlichen Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Versicherten Maßnahmen zur Förderung der dGK anzubieten. In der Praxis schlägt sich dies aktuell in den Versicherten kaum bekannten Einzelmaßnahmen wie zum Beispiel vertrauenswürdigen Portalen zur Arzt- und Krankenhaussuche oder generalistischen Online-Schulungsangeboten nieder. Im Hinblick auf die vielfältigen Chancen einer hohen dGK als Antwort auf die zahlreichen Herausforderungen im Gesundheitswesen stellt sich hier zwangsläufig die Frage: Reicht das aus? Wenn die dGK eine Schlüsselkompetenz im Gesundheitssystem darstellt, müssen wir dann nicht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und gemeinsam mit allen Akteuren im Gesundheitswesen an einer Lösung arbeiten? Müssen wir nicht mehr Forschung zu effektiven Fördermöglichkeiten betreiben? Braucht es nicht mehr konkrete Ansätze, um die dGK zu fördern und zu verbessern?

Um einen Beitrag zu diesen Fragen zu leisten, führe ich im Rahmen meiner Promotion eine Delphi-Studie durch. Das Ziel ist, Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz von gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland aus ganzheitlicher Perspektive zu generieren. Erste Ergebnisse zeigen, dass hierfür eine Weiterentwicklung auf allen Ebenen von politisch-gesellschaftlichen Denkhaltungen und Rahmenbedingungen über etablierte Rollen und Berufsbilder bis hin zu den Strukturen und Prozessen im Gesundheitswesen und den aktuell eingesetzten Fördermaßnahmen erforderlich ist. Frei nach der Aussage des European Health Parliament, „You can have the most technologically advanced device in the world, but if you don’t know how to operate it, it will be as useful as a jumbo-jet without a pilot”, sollte die digitale Gesundheitskompetenz dringend eine wichtigere Rolle im deutschen Gesundheitswesen einnehmen.

Vorheriger Artikel Nächster Artikel
>> Das Ziel ist, Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz zu generieren. <<
Julia Ulbrich