Longevity? Immortality!
Vor kurzem hat Jürgen Klopp nach fast 9 Jahren beim FC Liverpool seinen tränenreichen und höchst emotionalen Abschied gefeiert. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn wir festhalten, dass Klopp eine Ära geprägt und Geschichte geschrieben hat. Aber wie komme ich als Arzt – wenn auch als Freund des Fußballs – zu diesem Thema, wo wir doch im 10xD-Magazin nicht über die Viererkette, sondern über medizinische Themen und vor allem die notwendige digitale Unterstützung auf dem Weg zu einer menschenorientierten Gesundheitsversorgung sprechen? Keine Sorge, wir werden auch in Zukunft kein Konkurrenzblatt zum „kicker“. Aber ich habe bei den Bildern aus England darüber nachgedacht, dass „Longevity“ – ein Thema, mit dem ich mich in letzter Zeit intensiv beschäftige und das gemeinhin mit „Langlebigkeit“ übersetzt wird – nur naturwissenschaftlich betrachtet zu kurz greift. Es gibt auch und gerade eine historisch-philosophische Dimension. Im Idealfall wird aus Longevity Immortality – Unsterblichkeit. Nun mag Jürgen Klopp vielleicht ein aktuelles und populäres, aber bei Gott nicht das beste Beispiel für diesen Ansatz sein. Viele historische Personen der Geschichte, von Ramses II. über Karl den Großen bis hin zu Adenauer oder die Queen sind sehr alt geworden. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele wie Alexander den Großen. Aber eine lange Lebensspanne schafft eben optimale Voraussetzungen für epochale Bauten und Denkmäler, dehnt den politischen Gestaltungs-Zeitraum aus und steigert schlicht die Wahrscheinlichkeit, unsterbliche Erinnerungen und Errungenschaften zu hinterlassen. So betrachtet bezieht sich Longevity also nicht nur auf die lebendigen Jahre, sondern auch und vielleicht gerade darauf, was man an immateriellen Werten und Vermächtnissen hinterlässt. Nicht umsonst lautet ein geflügeltes Wort, das man nur dann wirklich tot sei, wenn sich niemand mehr an einen erinnert. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Interviews vor einigen Jahren zu diesem Thema, bei denen Journalisten von mir als Chef einer der großen Universitätskliniken eine Einschätzung wollten, ob denn Eisbäder, Heilfasten, Marathon laufen oder strikte Ernährungsdisziplin der Schlüssel zu einem langen Leben oder das ganze Thema nur Schmu sei. Und ich gab nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft mit einer, wie ich heute weiß, sehr eindimensionalen medizinischen Betrachtungsweise. Verzeihen Sie mir diesen etwas philosophischen Einstieg und Ausflug, aber er macht deutlich, dass es bei Longevity eben gerade nicht nur um die Koste-es-was-es-wolle-Verlängerung der eigenen Lebensspanne und die Addition weiterer Lebenszeit geht. Das ist die „alte“, quantitative Denkweise. Richtig ist vielmehr, dass wir der Qualität des Daseins den Vorzug geben müssen. Im Kern stehen Begriffe wie Glück, Zufriedenheit, Dankbarkeit. Im Mittelpunkt steht nicht die Frage, wie wir dem Leben mehr Jahre geben können. Sondern den Jahren mehr Leben. Es liegt dabei an jedem Einzelnen, nicht nur an der körperlichen Fitness zu arbeiten, sondern vor allem offen für neue Gedanken und neue Erfahrungen zu bleiben, Partnerschaften zu wertschätzen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen. Longevity kann von keinem Arzt verschrieben werden, sondern nur das Ergebnis einer intrinsischen Motivation sein. Und insofern dient Longevity auch als Blaupause eines zukunftsfesten Gesundheitssystems, dass deutlich mehr als heute auf Eigenverantwortung und Prävention setzt. Der smarte, informierte, auch fordernde Patient ist dafür unverzichtbar. Ebenso müssen wir die gesellschaftlichen Implikationen von Longevity betrachten, von der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme – vor allem der Rente – bis hin zur Herausforderung des würdigen, wertschätzenden Umgangs mit unseren alten Menschen. Immer häufiger geht der Trend in Richtung Abschiebung und Verwahrung. Das ist grundfalsch. Wir müssen vielmehr alle Möglichkeiten schaffen, dass die Weisheit und die Erfahrung von Alten als wichtige Ressource und nicht als Belastung verstanden werden, so wie es eigentlich in allen Weltkulturen über Generationen üblich war. Just beim Schreiben dieser Zeilen erschien übrigens die Meldung, dass die Lebenserwartung in Deutschland, ohnehin schon Schlusslicht in Westeuropa, im Vergleich weiter zurückfällt. Die gleichsam automatische Verlängerung der Lebensspanne ist also kein Naturgesetz, sondern mit erheblichen Anstrengungen des Individuums als auch des Gesundheitssystems verbunden. Longevity ist demnach Überzeugung, ist persönliche Entscheidung UND Arbeit. Umso wichtiger ist es, die verbleibende Lebensspanne nicht asketisch-freudlos zu gestalten, sondern gleichsam genussvoll zu erweitern und mit Lebensqualität, mit Sinn und Glück zu füllen. Dieser erweiterte, auch emotionalere Blick auf Longevity tut dem Thema und der dahinterstehenden Philosophie gut. Und wenn wir es dann noch schaffen, in unserer verbleibenden Lebensphase nicht nur unser Leben mit all seinen Facetten gesund zu genießen, sondern auch Werte und Erinnerungen zu schaffen, die nach unserem Tod weiterleben, wird aus Longevity tatsächlich Immortality.
Vorheriger Artikel Nächster Artikel