Prävention benötigt mehr öffentliche Aufmerksamkeit
Herr Neumann, können Sie uns Ihre Einschätzung dazu geben, ob Prävention das Gesundheitssystem retten kann?
Grundsätzlich sind wir uns doch alle einig, dass das System von einem Krankheits- zu einem Gesundheitssystem umgestaltet werden muss. Laut Statista betrugen die Krankheitskosten pro Jahr und Einwohner in Deutschland im Jahr 2023 5.600 €. Im Gegensatz dazu wurden lediglich 7,70 € für Prävention in den Lebenswelten und der Individualprävention ausgegeben, wie im Präventionsbericht desselben Jahres festgehalten ist. Hier liegt offensichtlich ein Ungleichgewicht vor. Prävention steht vor der Herausforderung, dass ihre Maßnahmen langfristig wirken, und wir müssen unsere Perspektive auf Jahrzehnte ausrichten. Zudem müssen klare Präventionsziele formuliert werden, um den Erfolg messbar zu machen. Deshalb ist Prävention der Schlüssel zur Rettung des Systems, jedoch eher auf lange Sicht. Daher müssen wir jetzt schnell handeln.
Welche ersten wichtigen Maßnahmen könnten ergriffen werden?
Zunächst benötigt Prävention mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Partnern T-Systems International und dem Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVBGV) die PREVENTURE ins Leben gerufen. Hier werden ausschließlich Präventionsthemen diskutiert und umgesetzt. Es handelt sich um eine sehr aktive Veranstaltung, an der alle Akteure des Gesundheitssystems teilnehmen. Ziel ist es, gemeinsame Verpflichtungen zur Förderung der Prävention zu schaffen. Für konkrete Maßnahmen müssen wir auf politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Ebene Tempo machen. Im Bereich der Primärprävention haben Versicherte seit einigen Jahren die Möglichkeit, im Rahmen von § 20 des SGB V zweimal im Jahr einen Präventionskurs in der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet zu bekommen. Leider wissen dies jedoch nur wenige Versicherte, und derzeit nehmen nur etwa 1,4 % der Deutschen diese Möglichkeit wahr. Die Kassen müssen zahlen, haben jedoch erhebliche Budgetprobleme. Hier ist die Abschaffung der Vorleistung des Versicherten der erste sinnvolle Schritt hin zu mehr Prävention. Wenn wir die Versicherten in die inhaltliche Verantwortung einbeziehen, braucht niemand befürchten, dass die Maßnahmen nicht greifen. Auch deshalb sind klare Präventionsziele erforderlich. Daher sollten wir darauf hinarbeiten, dass Primärprävention zu einer staatlichen Aufgabe wird. Was spricht dagegen, einen Präventionskurs pro Jahr für jeden Bürger verpflichtend zu machen und mit Anreizen zu versehen?
Warum sollte Prävention staatliche Aufgabe sein?
Krankenkassen müssen wirtschaftlichen Zwängen folgen, die auf Jahreszyklen basieren, und Versicherte können die Kasse wechseln. Wenn eine Kasse also Präventionsmaßnahmen für „ihre Versicherten“ anbietet, können diese Maßnahmen möglicherweise mit den Kunden zu einer anderen Kasse verschwinden. Der Wettbewerb um Kunden ist groß. Zudem geben die Kassen derzeit noch zu viel Geld für Krankheitskosten aus. Vielleicht kann das System in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten entsprechend angepasst werden. Die privaten Versicherer sind meiner Meinung aber ebenso gefragt. Hier ist die Bindung an die Kunden langfristiger und enger. Präventionsmaßnahmen können hier langfristig wirken, und auch die Beitragsstabilität wird dadurch enorm gestützt.
Was können wir sonst noch tun?
Wir müssen die Gesundheitskompetenz jedes Einzelnen verbessern, und das bereits frühzeitig. Kindergärten, Schulen und Freizeiteinrichtungen eignen sich hierfür gut. Digitale Gesundheitskompetenz ist heute bereits ein Thema für die Kassen, aber wir müssen alle Menschen jeden Alters abholen. Niederschwellige Ansätze, einfache Sprache, hybride Methoden (analog und digital) und die Einbeziehung von KI sind dabei die Mittel der Wahl. KI kann täglich kleine Impulse geben und die Menschen überall und jederzeit begleiten, wie wir es bereits bei CyberHealth tun. Die Kombination aus persönlichem Coaching und KI-Begleitung ist der Weg zur einfachen und individuellen Prävention. Und wir müssen mehr Sex-Appeal in die Prävention bringen. Die Maßnahmen müssen nicht nur Spaß machen, sondern auch das Wording muss überdacht werden. Alle reden lieber über Longevity, Biohacking oder Selbstoptimierung, während bei Prävention und Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) die Augen eher verdreht werden.
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