Missverstandene Körper im Gesundheitswesen
Die meisten Menschen wissen nicht, dass sich hinter dem Begriff ‚Ableismus‘ die strukturelle Diskriminierung von behinderten oder chronisch kranken Menschen verbirgt. In unserem ableistischen System haben wir unterschiedliche Anforderungen an Körper und Fähigkeiten. Wir gehen davon aus, alle Menschen könnten diesen Vorstellungen entsprechen und werten diejenigen ab, die den Erwartungen nicht gerecht werden. Es wird angenommen, alle Menschen hätten dieselben Möglichkeiten und körperlichen Voraussetzungen. Der gesamtgesellschaftliche Blick auf Behinderung und chronische Erkrankungen ist nach wie vor defizitär. Obwohl wir immer öfter von Inklusion sprechen, sind Menschen, die ableistische Mechanismen bemerken, sie hinterfragen und ändern, eine Ausnahme.
Wie alle Formen struktureller Diskriminierung ist auch Ableismus zu komplex, um ihn in wenigen Sätzen komplett erfassen zu können. Ich möchte einen kleinen Einblick geben, was es bedeuten kann, wenn dein Körper nicht in vermeintliche gesellschaftliche „Normen“ passt. Was es bedeutet, wenn dein Körper missverstanden wird, weil er anders funktioniert als in Lehrbüchern steht. Obwohl viele behinderte und chronisch kranke Menschen regelmäßig medizinische Versorgung brauchen, ist das Gesundheitssystem oft überfordert mit unserer Lebensrealität. Es wird häufig davon ausgegangen, dass wir Behinderung und chronische Krankheit „überwinden“ könnten. Uns wird suggeriert, dass es sich um unser persönliches Versagen handele, wenn Medikamente oder Behandlungen nicht anschlagen. Unser Leben gilt als weniger schützenswert als das von nicht-behinderten oder gesunden Menschen. Diese in der Medizin weit verbreiteten Annahmen weisen erschreckende Parallelen zu den Überzeugungen der NS-Zeit auf. Sie wurden als Rechtfertigung genutzt, um behinderte und chronisch kranke Menschen systematisch zu ermorden. Die fehlende Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit strukturellem Ableismus im Gesundheitswesen führen dazu, dass behinderte und chronisch kranke Menschen oft keine ausreichende medizinische Versorgung erhalten.
Wenn ich als chronisch kranke und behinderte Person von meinen Symptomen erzähle, wird mir oft etwas wie „Das kann nicht sein“ entgegnet. Dieses Verhalten nennt sich „Medical Gaslighting“ und beschreibt das Absprechen und Infragestellen der Erfahrungen von Patientinnen. Es ist schmerzhaft von Menschen, auf die du angewiesen bist, wiederholt gespiegelt zu bekommen, dass sie denken, du würdest lügen. Solche Erfahrungen zählen zu den Gründen für medizinisches Trauma.
Meistens sind Ärztinnen überfordert von der Vielzahl meiner Erkrankungen und Symptome. Mein Körper und ich lassen sich nicht in die gängigen Kategorien pressen. Gleichzeitig bin ich privilegiert genug, dass schon bestehende Diagnosen - sogar humangenetische Befunde – übergangen werden, weil die Behandelnden mein Erscheinungsbild noch gut genug in ihre Normvorstellungen pressen können. Mir wird gesagt, ich sei eine junge, gesunde nicht-behinderte Frau. Ich solle meinen Lifestyle einfach ein bisschen optimieren. Dabei wird ignoriert, dass ich seit Jahren all den empfohlenen gesundheitsförderlichen Maßnahmen im Rahmen meiner Behinderung und Kapazitäten nachgehe. In diesem Moment wird nicht nur meine Lebensrealität geleugnet, sondern auch suggeriert, dass ich für meine Symptome verantwortlich wäre. Es wird so getan, als hätte mein Körper die Möglichkeit, gesund zu sein. Das ist falsch. Auch der vorbildlichste Lifestyle könnte beispielsweise nichts daran ändern, dass meine Nebennieren bestimmte Enzyme nicht produzieren können.
Das ist nur ein Beispiel von vielen. Unzählige behinderte und chronisch kranke Menschen erleben regelmäßig Medical Gaslighting. Zu oft ist eine adäquate Behandlung vom Wohlwollen einzelner Ärztinnen abhängig. Dabei müsste qualifiziertes Fachpersonal doch eigentlich wissen, dass Körper individuell sind, Symptome sich unterschiedlich zeigen und unsere vermeintliche „Norm“ in der Realität eine Ausnahme ist.
Unsere Leben sind genauso wertvoll wie die Leben nicht-behinderter oder gesunder Menschen. Wir haben das Recht auf eine umfassende individuelle Versorgung. Es ist längst überfällig, dass medizinische Institutionen Verantwortung übernehmen und anfangen, strukturellen Ableismus abzubauen.