Talente in Rente
Der Arbeitsmarkt steht unter Druck. Als Grund dafür wird immer wieder angeführt, dass durch die Alterung der Gesellschaft die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter sinkt. Das ist mir zu einfach gedacht! Alter ist und war in unserer Gesellschaft immer mit dem Verlust von Fähigkeiten und Fertigkeiten verbunden. In vielen Unternehmen scheinen die Mitarbeiter jedoch schon vor dem Eintritt in den Ruhestand „zu alt“ zu sein.
Vom Platz gestellt
Im englischen etabliert sich der Begriff „the grey sideline“.
Mit der „grauen Seitenlinie“ ist gemeint, dass Mitarbeitende aus dem Spiel genommen werden, weil sie zu alt sind. Das kann beispielsweise damit beginnen, dass man sie für Fortbildung „übersieht“ oder sie mit sogenannten Sonderaufgaben beschäftigt, die unter ihrer Qualifikation liegen. Die Position am Spielfeldrand hat für die Betroffenen spürbare Konsequenzen, denn die imaginäre Seitenlinie hindert sie ganz real daran, Teil des Teams zu sein und ihren Beitrag zum Erfolg zu leisten. Auch für das Unternehmen hat dies erhebliche Konsequenzen, denn die Betroffenen ziehen sich zurück und fehlen mit ihrer Erfahrung bei der Entwicklung von Lösungsansätzen und der Gestaltung von Innovationen. Hinzu kommt, dass die Unternehmen die geburtenstarken Jahrgänge zu Hunderttausenden in den Ruhestand schicken, oft vorzeitig über Vorruhestandsprogramme. Dass Menschen, die am Ende ihres Berufslebens wenig Wertschätzung erfahren, das Angebot der Frühverrentung annehmen, ist nicht verwunderlich. Überraschend für viele Unternehmen ist jedoch der Höhepunkt der Erwerbstätigkeit im Ruhestand.
Ruhestand, die Phase der Neuorientierung
Viele Menschen stellen nach Monaten im Ruhestand fest, dass der endlose Urlaub nicht so erfüllend ist wie gedacht. 150.000 Tage Freizeit überfordern und führen regelmäßig zur Frage: Wofür stehe ich eigentlich auf? Der Soziologe Robert Atchley beschreibt den Ruhestand als einen Prozess in sechs Phasen: Er beginnt mit dem Honeymoon. Voller Enthusiasmus werden lang gehegte Träume und Leidenschaften verfolgt. Nachdem die anfängliche Begeisterung abgeklungen ist, stellt sich vielfach ein Gefühl der Leere ein. Grund dafür ist häufig der Verlust der beruflichen Identität und damit die Einbuße von sozialen Kontakten und Status. Was folgt ist die Phase der Neuorientierung, die gerade bei gut ausgebildeten Fach- und Führungskräften zu einer Erwerbstätigkeit führt. Als Hauptgründe für ihr Schaffen werden im IAB-Kurzbericht 8/22 Spaß an der Arbeit, das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und nach sozialen Kontakten genannt. Bei einer Erwerbstätigenquote der 65- bis 69-Jährigen von derzeit 19% und einem Renteneintritt von rund 1.000.000 Personen pro Jahr bedeutet dies: 190.000 zusätzliche Rentner arbeiten jährlich durchschnittlich 14,5 Stunden pro Woche. Das sind über 2.700.000 Stunden im Jahr, die genutzt werden können. Stellt sich die Frage: Welche Unternehmen greifen dieses Potenzial auf? Ein Unternehmen, das die „Ressource Rentner“ strategisch nutzt, ist die NASA. Regelmäßig wird über ihre pensionierten Experten berichtet. Im April 2024 war in „Die Zeit“ zu lesen: „Die legendäre Raumsonde Voyager 1 funkt nur noch Datenmüll. Doch die NASA will sie retten und reaktiviert dafür ihre Rentner.“ Noch im April funkte die Voyager 1 wieder - dank der „Talente in Rente“. Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung zählt den Übergang in den Ruhestand zu den „kritischen Lebensereignissen“. Bereits 2017 verwies sie auf den Mangel an spezifischen Interventionen, die den Ruhestandsübergang flankieren. Hier können Arbeitgeber aktiv werden. Zur Förderung der „Talente im Ruhestand“ bietet sich ein betriebliches Bildungsangebot an, denn ähnlich wie bei der Gesundheitsvorsorge ist fundiertes Wissen notwendig, um vorausschauend planen zu können. Die Herausforderung bei der Ruhestandsplanung besteht darin, die Komplexität zu reduzieren und Impulse zu setzen, die den Prozess des Vorausschauens und Planens fördern.
Neben Ratgebern, wie der Neuerscheinung „Graues Gold statt altes Eisen: Wie der Start in den Ruhestand gelingt“, bieten sich gerade im Bereich der betrieblichen Fortbildung digitale und hybride Formate an, um Mitarbeitende zu Qualifizieren und für eine gemeinsame Zukunft in Zeiten des Fachkräftemangels zu gewinnen.
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