Kulturelle Vielfalt im Startup Ökosystem

Dieser Beitrag beschreibt, wie mich meine persönlichen Erfahrungen als Migrantenkind geprägt haben, warum ich heute mit BRYCK die Diversität im Startup Ökosystem fördern möchte und warum wir gemeinsam mit 2hearts, einer Community für Menschen mit Migrationsgeschichte in der europäischen Tech-Industrie, das Event MENT2BE initiiert haben, um Migrant Founders zu unterstützen. 

MENT2BE wird in Essen stattfinden. Ich persönlich kann mir keinen besseren Ort für dieses Event vorstellen. Mein Vater kam in den 1970er Jahren hierher, um im Bergbau zu arbeiten. Er und viele Tausende von Zugewanderten haben das rasante Wachstum der Industrie im Ruhrgebiet maßgeblich vorangetrieben und damit die gesamte Industriekultur in Deutschland geprägt. Mehr als 50 Jahre später sprechen wir über diese Region als Innovations- und Startup-Hub, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte wieder eine entscheidende Bedeutung einnehmen, um die nächsten 50 Jahre zu gestalten.

Eine lebenswerte Zukunft ist ohne Vielfalt nicht denkbar 

Ich bin als Kind von Eltern, die aus der Türkei eingewandert sind, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich weiß daher aus erster Hand, vor welchen Herausforderungen Menschen mit Migrationsgeschichte oft stehen. Diese Erfahrungen prägen mich bis heute und im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass meine größte persönliche Stärke darin liegt, zwei kulturelle Identitäten zu haben. Allerdings habe ich das nicht immer so empfunden - vor allem nicht in meiner Kindheit und Jugend.  

Mit einem Vater, der wie viele andere Migranten ins Ruhrgebiet kam, um im Bergbau zu arbeiten, und einer Mutter, die Analphabetin ist, musste ich schon früh viel Verantwortung übernehmen. Sei es in der Schule oder im Umgang mit Banken, Behörden und der Verwaltung.

Schon als kleiner Junge musste ich den offiziellen Schriftverkehr meiner Eltern erledigen und zum Beispiel Kindergeldanträge für meine Geschwister ausfüllen. Bei Elternsprechtagen habe ich für meine Eltern übersetzt. Darüber hinaus musste ich meinen eigenen Weg und meine Identität zwischen meinem türkischen Elternhaus und der deutschen Mehrheitsgesellschaft finden. Dass ich das erste und einzige muslimische Kind war, das auf eine katholische Jungenschule ging, machte die Identitätskrise nicht leichter. Damals empfand ich das (manchmal) als Belastung. Heute weiß ich, dass die zwei Herzen, die in meiner Brust schlagen, ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit sind.

Ich sehe die kulturelle Vielfalt als eine natürlich gegebene Chance, komplexe Probleme mit innovativen Lösungen und unternehmerischem Denken zu lösen. Trends wie Globalisierung, Klimawandel, Energiewende, Technologisierung, Regulierung und radikal veränderte Verbraucherpräferenzen führen zu immer größerer wirtschaftlicher Komplexität. Diese stellt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, sondern ganzer Volkswirtschaften auf die Probe. Je mehr die Komplexität zunimmt, desto höher der Innovationsdruck und desto mehr müssen wir Vielfalt in Gesellschaft und Wirtschaft fördern. Denn Vielfalt ist ein natürlicher Nährboden für Kreativität und Innovationskraft. Eine lebenswerte Zukunft ist ohne Vielfalt daher nicht denkbar. Darüber hinaus bereichert sie uns natürlich gesellschaftlich. Übrigens: Bei BRYCK sind fast ein Drittel unserer Mitarbeitenden Zugewanderte der ersten oder zweiten Generation. 

Die OECD schreibt in einem Papier vom März 2023: "Unternehmer*innen mit Migrationsgeschichte spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Innovationen voranzutreiben, Arbeitsplätze zu schaffen, ausländische Investitionen anzuziehen und die Wirtschaft voranzutreiben. Die OECD-Länder konkurrieren zunehmend darum, das beste Ziel für unternehmerische Talente zu werden. Dies hat dazu geführt, dass immer mehr Länder Startup-Visa anbieten, die sich an hochqualifizierte Unternehmer*innen richten." 

Die TOP5 der OECD-Länder für Talente in der Gründungsphase sind:  Kanada, USA, Frankreich , UK und Irland. Deutschland liegt auf Platz 12 von 24. Wir haben uns mit 2hearts zusammengetan, um unseren Teil dazu beizutragen, dies zu ändern. 

Zusätzliche Hindernisse für Menschen mit Migrationsgeschichte bei Gründung und Aufbau eines Unternehmens

Ich kenne die Schwierigkeiten, von denen Migrant Founders berichten, aus eigener Erfahrung und kann mich sehr gut in ihre Situation hineinversetzen. Wenn es darum geht, ein Startup zu gründen, zu finanzieren und zu skalieren, stehen Gründer*innen mit Migrationsgeschichte vor denselben Herausforderungen wie alle anderen Gründer*innen. Migrant Founders müssen im Unterschied jedoch zusätzlich sprachliche, kulturelle und bürokratische Hindernisse überwinden. Darüber hinaus verfügen sie nicht über die erforderlichen Netzwerke und müssen gegen Vorurteile ankämpfen. All dies erschwert den Zugang zu Finanzmitteln und Ressourcen wie Talenten und Forschungseinrichtungen.

Laut dem Migrant Founders Monitor 2023 sind Zugewanderte der ersten Generation im Vergleich zu ihrer Vergleichsgruppe von High-Potential-Gründer*innen ohne Migrationsgeschichte ehrgeiziger, wenn es darum geht, Risikokapitalfinanzierung zu erhalten (73 % gegenüber 61 %), aber ihre Finanzierungslücke ist größer (39 % gegenüber 34 %). Meine persönliche Schlussfolgerung ist, dass Eingewanderte im Vergleich fleißiger, disziplinierter, ausdauernder und lernbereiter sein müssen. Das folgende Zitat aus meinem Grundschulzeugnis der zweiten Klasse macht dies ebenfalls deutlich: 

"Ersin kann unbekannte Texte langsam lesen. Es fällt ihm schwer, sich zum Inhalt des Gelesenen zu äußern. Er kann geübte Texte aus seiner Vorstellung noch nicht fehlerfrei schreiben. Er hat einen begrenzten Wortschatz und kann noch nicht in ganzen Sätzen erzählen. Er hat Probleme, sich gegenüber Mitschülern und Lehrern verständlich zu machen. Bei Sachaufgaben ist er aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auf Hilfe angewiesen. Er zeigt ausdauernden Fleiß und große Lernbereitschaft".

Nun stellen Sie sich vor, Sie würden dasselbe erleben, aber nicht als Achtjähriger, sondern als jemand, der in seinem Heimatland bereits einen akademischen Abschluss hat und in einem Gastland ein Unternehmen gründen möchte. 

Studien zeigen, dass strukturelle, bürokratische, sprachliche und kulturelle Barrieren Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland oft daran hindern, ihre Ideen umzusetzen und ein Unternehmen zu gründen. Dies zementiert nicht nur die ungleichen Chancen für den Einzelnen, sondern bedeutet auch, dass wir die Chancen durch Zuwanderung für die Wettbewerbsfähigkeit des Innovationsstandorts Deutschland nicht nutzen. Es ist wichtig, dass wir Maßnahmen ergreifen, um für High Potentials aus dem Ausland attraktiver zu sein, Talente mit vielfältigen Hintergründen in Deutschland zu halten und Migrant Founders beim Aufbau von Unternehmen zu unterstützen.

Migranten zeichnen sich durch ihre besonderen Fähigkeiten zum Aufbau erfolgreicher Startups aus 

Investor*innen betonen immer wieder, dass sie nicht in Ideen und Produkte investieren, sondern in Teams. Dabei geht es nicht um Abschlüsse, Zeugnisse oder Zertifizierungen. Natürlich müssen die technischen Fähigkeiten vorhanden sein. Daran besteht kein Zweifel. Vielmehr geht es um besondere Qualitäten, die mit persönlichen Eigenschaften der Gründer*innen zusammenhängen. Einige davon habe ich bereits im vorigen Absatz erwähnt. 

Studien zeigen auch, dass Migrant Founders aufgrund ihrer Migrationserfahrung selbst und ihrer Motivation, die zur Auswanderung geführt hat (freiwillig oder unfreiwillig), besondere Fähigkeiten mitbringen. Jan Claudio Muñoz, beschreibt in seinem LinkedIn Artikel "Why we love migrantfounders" sehr anschaulich, warum Backbone Ventures 5502 in Gründer*innen mit Migrationsgeschichte investiert und hebt einige weitere besondere Eigenschaften hervor. Es gibt VCs, die ihre Investmenthypothese auf die hohe Erfolgswahrscheinlichkeit von Migrant Foundersstützen. Nicht primär aus ideologischen, sondern vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Beispiele sind Backbone Ventures (DE), nolabel.ventures (UK) und unshackledvc.com (USA). 

Mit Blick auf Investor*innen fordere ich keine Sonderbehandlung für Gründer*innen mit Migrationshintergrund, sondern eine vorurteilsfreie und faire Behandlung bei der Bewertung von Investitions- und Finanzierungsentscheidungen. Das ist auch einer der Gründe, warum wir den Namen MENT2BE ("It's meant to be") gewählt haben, um faire Chancen auf Teilhabe für Migrant Founders einzufordern.

Wir wollen mehr Erfolgsgeschichten von Migrant Founders in Deutschland 

Meine größte Motivation sind die persönlichen Erfolgsgeschichten von Menschen mit Migrationsgeschichte in allen Bereichen unserer Gesellschaft - in Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport. Wir brauchen solche Vorbilder als Inspiration und Motivation. Biontech mit den Migrant Founders Ugur Sahin und Özlem Türeci ist wohl die bekannteste Erfolgsgeschichte aus Deutschland, auch international. Es gibt noch viele weitere inspirierende Geschichten von Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die zwar nicht alle so bekannt sind, aber beeindruckende Leistungen vollbringen und ihren Beitrag zu einer lebenswerten Zukunft leisten. Wir müssen diese Geschichten viel besser und häufiger erzählen, damit sich andere Menschen mit Migrationsgeschichte von diesen Role Models inspirieren lassen. Wir müssen ihnen Mut machen, dass sie es auch schaffen können, dass sie auf ihrem Weg nicht allein sind und dass es Menschen gibt, die sie unterstützen.

Wir müssen talentierte Menschen motivieren, dass sie hier willkommen sind und ihre unternehmerischen Träume verwirklichen können. Ich bin sicher, dass in Deutschland noch viele großartige Erfolgsgeschichten geschrieben werden können.

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Ersin Üstün
COO BRYCK